
Erziehung | Kinderängste
Mein Tiger hilft mir immer!
Von Vera Sohmer
Glücksbringer, Mutmacher, Tröster – Krafttiere können Kindern im Alltag helfen, Ängste zu überwinden und das Selbstvertrauen zu stärken.
Obwohl Tom den grossen Garten liebt, mag er in letzter Zeit nicht mehr nach draussen gehen. Er fürchtet sich vor den dicken Kreuzspinnen, die starr in ihren Netzen hocken und auf Beute lauern. Zusammen mit seiner Mama hat Tom deshalb eine Anti-Angst-Strategie entwickelt. Er stellt sich vor, wie ein starker Gepard die Spinnen verscheucht. Seither setzt der Sechsjährige auf die Hilfe seiner Raubkatze. Und das nicht nur in seiner Vorstellungskraft. Auch seine Bettwäsche ist mit Gepard- Motiven bedruckt. Und wenn er in den Garten geht, steckt er eine kleine Gepard-Figur aus Holz in die Hosentasche, die ihm seine Mutter geschenkt hat. Nach wie vor sind ihm die Spinnen suspekt, aber sie machen ihm keine Angst mehr.
- Zwingen Sie ein Kind nie, ein Krafttier zu aktivieren oder davon zu berichten, was es erlebt hat. Eine innere Reise ist etwas sehr Intimes. Wie viel das Kind preisgeben will, entscheidet es selber.
- Versuchen Sie, dem Experiment zu vertrauen. Die Kinder sollten die Kraft der inneren Bilder nicht beweisen müssen.
- Werten Sie nicht. Würdigen Sie das, was ein Kind erlebt hat und was es bereit ist zu erzählen. Auch dann, wenn sich das Erlebte schwer entschlüsseln lässt. Fragen Sie nach, wenn etwas unklar ist.
- Setzen Sie das Krafttier nicht für Erziehungsmassnahmen ein nach dem Motto: «Jetzt rufen wir mal deinen Löwen, damit du dein Zimmer aufräumst.»
- Es gibt keine richtigen und keine falschen Krafttiere. Es gibt nur solche, die fürs Kind stimmen, es wird instinktiv jenes finden, das zu ihm passt. Dabei ist unwichtig, ob Eltern die graue Maus oder die dunkelbraune Schnecke «gruusig» finden.
- Es müssen nicht immer Tiere sein, die als Kraftquelle dienen. Manchmal ist es ein Engel, ein Riese, ein Ausserirdischer oder ein Kristall.
- Ein Krafttier löst nicht alle Probleme. Wenn Ängste so gross sind, dass sie den Alltag des Kindes behindern, es etwa nicht mehr zur Schule gehen will oder schlecht schläft, benötigt es die Hilfe der Eltern oder einer Fachperson.
Fisch sucht Freunde
Eine hübsche Fantasie-Geschichte? Mehr als das. Tatsächlich können sogenannte Krafttiere ein Kind im Alltag unterstützen. Eine Angst überwinden ist nur ein Beispiel. Andere möchten im Fussball-Team gute Leistung bringen. Hausaufgaben nicht immer aufschieben. Morgens besser aus den Federn kommen. Oder sie brauchen einen guten Rat, damit es mit den Schulkollegen nicht immer gleich zu Raufereien kommt. Sich dafür einen Helfer aus der Tierwelt zu wählen, funktioniert bei Kindern besonders gut. «Sie sprechen stark auf Tiere an, sind von klein auf vertraut mit ihnen», sagt die Elterntrainerin und Therapeutin Corinne Häusler. Da sind etwa die spannenden Geschichten aus Bilderbüchern. Der kleine Tiger auf grosser Reise oder der einsame regenbogenbunte Fisch, der sich Freunde sucht. Oft stehen Tiere für bestimmte Eigenschaften. Sie sind klug, pfiffig, mutig, sanft, stark, tapfer – und faszinieren. Insbesondere kleinere Mädchen und Buben bis sieben Jahre sind deshalb meist begeistert vom Vorschlag, sich ein Krafttier zu suchen. Sich mit ihm zu verbinden und zu kommunizieren fällt Kindern leicht, weil sie eine ausgeprägte Fantasie haben. Und weil sie jene Eigenschaften, die den Tieren zugeschrieben werden, gut auf sich beziehen können.
Christian Lerch: «Kinder entdecken ihre innere Kraft. Integrative Imaginationsarbeit», Arbor-Verlag. Fr. 17.90
Reise ins Innere
Krafttiere fungieren dabei als Medium, um Kinder mit ihrer eigenen Gefühlswelt in Kontakt bringen. Mit ihren Freuden und Stärken, aber auch Befürchtungen und Sorgen. Therapeut und Buchautor Christian Lerch nennt es eine «Reise ins Innere». Er hat viele Kinder und Jugendliche begleitet. Zum Teil ganze Schulklassen, als es darum ging, Konflikte untereinander besser zu lösen. Wenn sie diese Reise antreten, tauchen Bilder auf und sie erleben Geschichten, ähnlich wie in einem Traum. Darin spielen bestimmte Tiere oft eine grosse Rolle. Die Kinder schlafen dabei nicht. Sie sind wach, aber entspannt wie bei einer Meditation. Auch Eltern können gute Begleiter und Türöffner sein, indem sie zu einer «Imaginationsreise» auffordern.

«Es nützt!»
Christian Lerch rät, Kinder ernst zu nehmen, ihre subjektive Realität zu würdigen. Und darauf zu vertrauen, dass sie vieles aus eigener Kraft schaffen, wenn sie auf ihre ureigenen Ressourcen zurückgreifen. Corinne Häusler staunt immer wieder, welche Antworten Mädchen und Jungen finden, wenn sie in sich hineinhorchen. Ihrer Erfahrung nach lassen sich diese Lösungsansätze gut in den Alltag integrieren und immer wieder aufs Neue aktivieren. Dazu können Eltern ebenfalls anleiten: «Vor längerer Zeit warst du vor der Mathe-Prüfung doch auch so aufgeregt. Weisst du noch, was dir damals geholfen hat?» Der zwölfjährige Alwin erinnert sich gut. Wenn er vor den Aufgaben sitzt, konzentriert er sich kurz auf einen bestimmten Punkt im Schulzimmer und stellt sich ein Tier vor. Bei ihm können es ganz unterschiedliche sein. So ist er bei der Prüfung nicht allein und wird ruhiger. «Es nützt», sagt er. Dass ein Krafttier selbst einmal Hilfe braucht, verletzt, hungrig oder gefangen ist, auch dies kann passieren. Die Tiere sind ein Spiegel dafür, was das Kind braucht, was gerade ansteht, was ihm auf der Seele drückt. Wenn es in seiner Vorstellung den mageren Igel oder die Möwe mit dem gebrochenen Flügel aufpäppelt, hilft es eigentlich sich selbst. Und hat vielleicht gelernt, wie man die beste Freundin tröstet, wenn sie traurig ist oder sich weh getan hat. Für kopflastige Erwachsene, räumt Christian Lerch ein, ist es oft schwierig, mit solchen «Fantasien» umzugehen. Manchmal können sie wenig damit anfangen, wenn das Kind erzählt, was es alles mit seinem Krafttier erlebt und was es ihm gesagt hat. Dagegen gibt es ein gutes Mittel: «Unternehmen Sie selbst einmal eine Reise ins Innere.» Aus eigener Erfahrung weiss der Therapeut: Krafttiere tun auch Erwachsenen gut, sie gehen mit deren Hilfe ein bisschen leichter durch den Alltag. Oder finden plötzlich Lösungen, auf die sie sonst nicht gekommen wären. Eltern, die es selbst erfahren haben, sind ihren Kindern umso bessere Begleiter. Sie sind selbst wieder mit ihrer inneren Kraft verknüpft. Wie das geht, können die Grossen von den Kleinen lernen.