
Keystone
Erziehung
Alle Macht den Kindern?
Von Kristina Reiss
Welche Schuhe, welche Glace und wann ins Bett? Eltern lassen ihre Kinder heute vieles selbst entscheiden. Zu viel? Wann klare Ansagen besser sind.
Magst du länger auf dem Spielplatz bleiben oder sollen wir noch beim Grossmami vorbeischauen?», fragt der Vater den schaukelnden Dreijährigen. Und drängt: «Entscheide dich! Beides geht nicht.» «Spielplatz ! », ruft der Bub spontan. Später, als der Heimweg ansteht, will der Kleine «Zum Grossmami ! ». Doch dafür ist nun keine Zeit mehr. Der weitere Verlauf ist vorprogrammiert: grosses Geschrei und Gezerre, an dessen Ende alle Beteiligten unzufrieden sind. Kinder dürfen heute überall mitreden. Und tun das auch. «Erziehung auf Augenhöhe» heisst dafür der Fachbegriff. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul sprach von «Gleichwürdigkeit innerhalb der Familie». Damit meinte er, dass die Bedürfnisse aller Familienmitglieder gleich wichtig zu nehmen sind. Was gut so ist. Schliesslich sollen mündige Menschen aus ihnen werden. Nur: Die konkrete Umsetzung im Alltag erweist sich oft als nicht so leicht.
Können Kleinkinder bereits aus 30 verschiedenen Glace-Sorten auswählen? Sollen Kindergartenkinder bei der Ferienplanung mitreden dürfen, Primarschüler:innen beim Hauskauf?
Gleichwürdig zu erziehen, heisst nicht gleichberechtigt
Caroline Märki leitet familylab Schweiz, eine Organisation, die Familienberatung nach Jesper Juul anbietet. Sie stellt ein grundlegendes Missverständnis fest: «Gleichwürdigkeit innerhalb der Familie heisst nicht, dass alle gleichberechtigt sind.» Die Familienberaterin findet: «Erwachsene müssen mehr entscheiden.» Tatsächlich sei Erziehung auf Augenhöhe vergleichbar mit Führung in der Arbeitswelt: Chef oder Chefin tragen mehr Verantwortung und fällen letztendlich die Entscheide – trotzdem können sie ihre Mitarbeitenden gleichwürdig behandeln. Dies gelte für Mutter und Vater ganz genauso.
Klar, geht es um Grundbedürfnisse, entscheiden bereits kleine Kinder selbst (Bin ich satt? Muss ich aufs WC? Ist mir warm oder kalt ? ). Bei komplexeren Entscheidungen, bei denen nicht allein das Fühlen entscheidet, wünscht sich Caroline Märki jedoch Eltern stärker in die Pflicht.
Denn in ihrer täglichen Arbeit hat die Familienberaterin viel mit Eltern zu tun, die sich scheuen, Führung zu übernehmen. «Die wenigsten möchten heute ihre Kinder autoritär erziehen», beobachtet sie. Gleichzeitig fehle es an Vorbildern, wie Mutter und Vater die Zügel in der Hand behalten und dennoch die Integrität des Nachwuchses achten können. Etwas für sein Kind zu entscheiden, bedeute, Verantwortung zu übernehmen. Dabei müsse man dann auch aushalten, wenn das Kind mit der elterlichen Führung nicht einverstanden ist. «Die Integrität des Kindes zu respektieren, heisst nicht, dass es bekommt, was es will», betont die Familienberaterin. Eltern sollten dem Nachwuchs signalisieren: «Wir sehen dich und deine Wünsche – aber letztendlich entscheiden wir.»
Als ihre heute erwachsene Tochter neun Jahre alt war und die Familie Ferien im Ausland machte, war das Kind abends so müde, dass es sich sträubte, mit zum Essen zu gehen. «Auch wenn wir es schön fanden, dass sie ihre Grenzen erkannte: Wir konnten sie in dem fremden Land nicht allein lassen; zudem hatte der Grossteil der Familie Hunger», erzählt Caroline Märki. Deshalb entschieden die Eltern für das Kind. Die Konsequenz? Die Tochter kam widerwillig mit, aber die Stimmung war im Eimer.
«Viele Eltern versuchen Konflikte unter allen Umständen zu vermeiden», beobachtet die Familienberaterin. Aus diesem Grund umgehen sie oft klare Ansagen und überlassen Entscheide lieber dem Nachwuchs. Dabei sei es ein Missverständnis, dass in einer gut funktionierenden Familie Harmonie herrsche. Eltern müssten auch mal die Wut und den Frust des Kindes aushalten können. Tatsächlich müsse man sich die Harmonie durch viele konstruktive Konflikte erarbeiten.

Wer entscheidet, der muss auch mit der schlechten Laune, die diese Entscheidung auslöst, leben können. Für die Kinder hat das den grossen Vorteil, dass es für all ihre widersprüchlichen und negativen Gefühle einen Adressaten gibt.
Eine Faustregel, welche Art von Entscheidungen Kinder wann zu fällen in der Lage sind, gibt es nicht. Dies ist individuell sehr unterschiedlich: Manches Kind fährt schon mit sieben allein mit dem Bus zu den Grosseltern in den Nachbarort, andere noch nicht mit zehn. Für Märki steht jedoch fest: Viele Kinder sind mit der Vielzahl der an sie delegierten Entscheidungen und der damit übertragenen Verantwortung überfordert.
Verantwortlich für das Ergebnis sind aber immer die Erwachsenen – entweder, weil sie die Entscheidung selbst getroffen haben. Oder weil sie sich entschieden haben, dies dem Kind zu überlassen. Die Verantwortung ans Kind zu delegieren mit einem «Du wolltest es doch so!», sei nicht möglich, sagt Märki. Ein: «Es tut mir leid, ich habe die Situation wohl falsch eingeschätzt», hingegen schon. «Fehler passieren», sagt die Familienberaterin. «Kinder nehmen daran keinen Schaden – so lange wir die Verantwortung dafür übernehmen.»
Caroline Märki, familylab Schweiz
So werden aus Kindern gute Entscheider:innen
• In der Familie mitreden und mitentscheiden ist ein wichtiges Lernfeld für Kinder und ein Recht, das in der UN-Kinderrechtskonvention festgehalten ist. Das Recht auf Mitbestimmung bedeutet jedoch nicht, alles den Kindern zu überlassen.
• Kinder kommen nicht als die grossen Entscheider zur Welt. Um sich sicher zu fühlen, brauchen gerade Kinder unter drei Jahren noch einen Schutzraum aus klaren Regeln und Ansagen. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass Bezugspersonen für sie die richtigen Entscheidungen treffen, ob beim Zähneputzen oder ins Bett gehen.
• Eltern müssen aushalten, dass manche ihrer Entscheide unpopulär sind und massive Gegenwehr auslösen. Was hilft: Nachfragen: «Warum ist es dir so wichtig, jetzt noch auf dem Spielplatz zu bleiben?» Verständnis zeigen, gemeinsam Kompromisse finden.
• Wichtig ist als Eltern, nur dort die Wahl zu lassen, wo auch wirklich eine besteht. Am besten nur zwei Optionen anbieten. Vanille oder Schokolade. Kurze oder lange Hose im tiefsten Winter? Nein, aber du kannst zwischen der blauen und der roten Hose aussuchen und zu Hause anziehen, was du willst.
• Die Zeit drängt? Dann die Führung übernehmen. Dem Kind in diesem Fall klarmachen: «Ich werde nun für dich entscheiden, weil die Zeit drängt.» Damit zeigen Erwachsene, dass sie das Kind sehen; gleichzeitig übernehmen sie die volle Verantwortung für ihr Handeln.
Sozialpsychologen schätzen, dass Menschen etwa 20 000-mal am Tag eine Entscheidung treffen. Aber wie kommen Entscheidungen überhaupt zustande? Und wie können wir Kinder dabei unterstützen, Entscheidungen treffen zu lernen?
Anruf beim deutschen Neurobiologen Gerald Hüther in Göttingen, der viel zur Hirnforschung und deren Anwendung auf das alltägliche Leben forscht. «Entscheidungen sind ja immer ein Abwägen zwischen zwei Dingen: Willst du das, oder willst du jenes?», sagt er. Wie gut wir uns entscheiden können, hängt dabei von der Datenlage ab. Wer eine Waschmaschine kaufen will, wägt beispielsweise Kosten und Nutzen ab. Sind diese eindeutig, übernimmt die Datenlage. «So verhält es sich mit allen Entscheidungen», sagt Hüther. Wären wir überall hinreichend gut informiert, wären Entscheide super einfach.
Entscheiden will gelernt sein, Kinder brauchen dabei unsere Hilfe
Das Problem: Bei vielen Fragen ist die Datenlage unzureichend oder lässt sich überhaupt nicht berechnen. Wen möchte ich heiraten? Welchen Beruf ergreifen? Bei solchen Fragen kommt der Rechner durcheinander, selbst die detailliertesten Angaben nützen hier nichts. «In diesen Fällen entschliesse ich mich deshalb für etwas», sagt Hüther. Was bedeutet: Ich entscheide mich auch ohne Datenlage. Obwohl auf dem Papier also vielleicht alles dagegenspricht, entscheide ich mich, diesen Mann, diese Frau zu heiraten. Kinder, die noch ohne Kenntnisse von Daten und Hintergründen durchs Leben gehen, müssen laut dem Neurobiologen deshalb nicht lernen, sich zu entscheiden, sondern sich zu entschliessen: Um dazu fähig zu sein, müssen sie jedoch wissen, was ihnen am Herzen liegt. «Denn nur wer sich für etwas entschliesst, zieht das auch durch», so Hüther.
Was aber brauchen Kinder, um auf ihr Bauchgefühl zu hören? «Erfahrungen», sagt Gerald Hüther. «Erfahrungen, die wir in der Welt machen, die berühren und unser Innerstes erreichen; sie prägen unser Leben.» Deshalb sei es auch so wichtig, dem Nachwuchs nicht alle Steine aus dem Weg zu räumen. «Ein Kind ist dann gut fürs Leben gerüstet, wenn es möglichst viele Lösungen für möglichst viele Probleme kennt», fasst der Neurobiologe zusammen. Oder anders gesagt: Gute Eltern machen ihren Kindern möglichst viele Probleme – aber nur solche, die der Nachwuchs auch lösen kann.
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.