Aus dem Vaterland
«Als das Küchentuch die Fliege traf»

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Die Fliege lebte länger, als uns allen lieb war. Wir wünschten, sie wäre fort oder tot. Es war eine rastlose Fliege von der Gattung Musca domestica, sie mochte die Menschen sehr und sie brummte um unsere Köpfe und streifte über unsere Wangen. Nachts landete sie auf unseren Ohren und weckte uns. Ich versuchte, sie unter einem Glas zu fangen, damit ich sie aus dem Fenster werfen kann, aber sie war stets schneller. Am zweiten oder dritten Tag nachdem sie bei uns eingeflogen war, sass ich mit meinem Sohn im Wohnzimmer auf dem Teppich. Ich hatte ein feuchtes Küchentuch in der Hand, da ich soeben das Geschirr getrocknet hatte.
Im Zen-Buddhismus (und in der Psychoanalyse) gibt es eine Theorie, wonach wir nur einen kleinen Teil aller Dinge bewusst tun. Das meiste geschieht in den Tiefen des Hirns und folgt einer eigenen Logik. Da mein Sohn noch sehr klein ist, hatte ich ihm sein erstes Wort beibringen wollen. Ich hatte mit jenen Menschen begonnen, von denen ich annahm, dass sie ihm am meisten bedeuten, mit Mama und Papa. Als er mich verständnislos anschaute, versuchte ich es mit den Namen der Dinge, die ihm Freude bereiten, Musik, Käse und Oliven. Bis zu dem Zeitpunkt, als wir auf dem Teppich sassen und die Fliege um unsere Füsse krabbelte, hatten meine Bemühungen nichts gebracht.
Als das Küchentuch die Fliege traf, sagte ich: «tätsch». Heute bin ich froh, dass ich nicht «tot» sagte. Mein Sohn erinnert mich daran, dass fast alles was ich tue, etwas auslöst. Ich fühle mich dann wieder, als wäre ich zwanzig und könnte mit den Händen in den Hosentaschen durch die Welt schlendern und überall stehenbleiben, wo mich etwas erstaunt. Es ist eine Welt ohne Scheuklappen, die mit zunehmendem Alter immer weiter entrückt. Er erinnert mich aber auch daran, dass ich jetzt ein Vorbild bin. Das ergibt seltsame Situationen, wenn wir etwa Bob Dylan hören, den er sehr mag, und dann kommen Zeilen wie «I’ll stand over your grave until I’m sure that you’re dead», was gänzlich ungeeignet ist für Kinder, und ich rechtfertige das mit Poesie, Rhythmus und Melodie und rede mir ein, deshalb kein schlechtes Gewissen haben zu müssen.
Er sass auf dem Teppich und schaute lange die reglose Fliege an und da bemerkte ich, dass etwas passiert war. Er schaute hoch und sagte: «tätsch». Zuvor schon hatte er einmal auf eine Katze gezeigt und «Büsi» gesagt, aber es war ein einmaliges Ereignis geblieben, das schnell vergessen war, und ich stufte «tätsch» in derselben Kategorie ein. Allerdings kam es anders. Er sagte das Wort zu jeder Gelegenheit, vermutlich zu Übungszwecken. Nach einigen Tagen bekam «tätsch» eine Bedeutung, glücklicherweise nicht für Mord, sondern für das Schliessen oder das Ausschalten von Dingen. Schubste er eine Tür zu, sagte er «tätsch» und drückte er den grossen runden Knopf an der Stereoanlage und verbreitete Stille, dann sagte er auch «tätsch».
Er ist sehr stolz, dass er jetzt unsere Sprache spricht.
Gerne wüsste ich, ob die Fliege noch in seinen Gedanken ist. Und wenn ja, was sie dort tut. Irgendwann in der Zukunft werden wir wohl über seine Kindheit reden, aber er wird sich an die Fliege nicht erinnern können. Er wird dann vielleicht mit Wörtern Geld verdienen, indem er sie in ein Mikrofon spricht, oder sie singt, oder sie in Tabellen schreibt, oder abhakt, oder von der einen Sprache in eine zweite ändert. Es gibt kaum eine Art Leben ohne Wörter. Und das alles begann: mit einer Fliege.