
Erziehung / Umgangsformen
Müssen Kinder höflich sein?
Von Daniela Poschmann
Respekt und Höflichkeit erleichtern das Zusammenleben. Das können schon die Kleinen begreifen. Eine Wegleitung.
Muss eine Vierjährige bei der Ankunft eines Freundes «hoi» sagen? Ein Dreijähriger gegenüber dem Metzger ein «Danke» aussprechen, wenn er ein Wursträdli erhält? Oder ein Sechsjähriger sich entschuldigen, wenn er die Zugtür für einen Moment versperrt hat?
Ganz so einfach ist die Antwort nicht. In unserer Gesellschaft gibt es zwar Verhaltensformen, die für uns Erwachsene angebracht sind. Kinder sehen aber das grosse Ganze noch nicht. Sie stecken mitten drin im Lernprozess für die Sprache und den Umgang.
Die Psychotherapeutin Roswitha J. Keller, die in Winterthur eine Praxis führt, erklärt, dass Anstandsregeln erworben werden müssen: «Das Kind lernt erst allmählich, wo ein Gruss oder ein Danke wichtig sind und wo eher nicht.» Sie als Grosstante lege zum Beispiel Wert darauf, dass sich die Kinder bei ihr für Geschenke bedanken. Sonst würde ihr als Schenkende etwas fehlen.
- Nicht mit Kindern schimpfen, wenn ihnen kein Gruss oder keine Entschuldigung über die Lippen kommt, sondern ihnen gelassen erklären, warum es in dieser Situation angebracht ist. Ihnen muss klar werden, dass es um die Achtung anderer Menschen geht.
- Keine Floskeln wie «Sei doch freundlicher!», sondern konkret und deutlich sagen, was man vom Kind erwartet.
- In der Kita begrüsst jeder jeden morgens persönlich. Das gilt für Eltern, Erzieher und Kinder gleichermassen.
- Erwachsene sollten Kindern helfen, mit einer neuen Situation zurechtzukommen. Sie fordern sie nicht nur zum Grüssen auf, sondern regen auch zum Spielen o. ä. an.
- Schüchterne Kinder sollte man nicht zum Reden zwingen, sondern es ihnen einfach vormachen und sie etwa beim Bedanken durch ein einfaches «wir» einbeziehen.
- Als Erwachsener Vorbild sein, sprich Höflichkeit an den Tag legen und auf den eigenen Ton achten.
- Ironie und Sarkasmus verstehen Kinder frühstens ab vier Jahren. Daher aufpassen mit impulsiven Äusserungen wie: «Na schönen Dank auch!»
Ein sozialer Mensch werden
Damit steht Keller nicht allein da. Auch die meisten Erzieher in den Krippen und Kindergärten bestehen auf Höflichkeitsritualen ebenso wie auf anständigen Begrüssungen und Verabschiedungen. Zum einen, weil es sich gehört, zum anderen, damit sie wissen, wer in der Einrichtung ist. Schliesslich haben sie eine Aufsichtspflicht. Wer morgens die Kita betritt, grüsst die Erzieherinnen und die bereits anwesenden Kinder und wer sie später wieder verlässt, verabschiedet sich. Das gilt sowohl für die Kinder als auch für die erwachsenen Vorbilder.
Wiederholt man diese Abläufe Tag für Tag, gehören sie irgendwann dazu. Es entstehen soziale Rituale, die den Kleinen leicht von den Lippen gehen und ihnen den Alltag erleichtern. Denn gerade kleinere Kinder sind noch mitten im Sozialisationsprozess und wissen oft nicht, wie sie reagieren sollen. Bestimmte Verhaltensmuster können aber helfen. Hören sie ein nettes «Hallo» beim Eintreten, fühlen sie sich beachtet und geschätzt, und das Eis ist gebrochen. Ausserdem fördert es den Zusammenhalt der Gruppe und sorgt für eine angenehme Stimmung.
Rituale sind Eltern nicht fremd. Sind sie doch das, was von ihnen von Anfang an erwartet wird: feste Essenszeiten, feste Spielzeiten und vor allem ein sich ständig wiederholender Ritus am Abend. So sollen sich die Knirpse wohlfühlen und gut schlafen. Und es funktioniert. Kinder lieben Wiederholungen, orientieren sich an ihnen und bauen damit eine eigene Wertewelt auf. Wert erhält, was wichtig ist. Kinder integrieren diese in den Alltag und werden dadurch selbstbewusster – und zu sozialen Menschen. Verbale Umgangsformen sollten von Beginn an vorgelebt werden, sagt Claudia Kaiser vom Universitäts-Kinderspital beider Basel. Diese würden umso wichtiger, sobald ein Kind bewusst anfängt zu sprechen und Zusammenhänge erkennen kann.
Bücher und Lieder helfen
Roswitha Keller sieht das ähnlich: «Die eigene Familienkultur bestimmt, was gelten soll. Wenn es den Eltern nicht wichtig ist oder sie die sozialen Regeln nicht anwenden – wie sollten es die Kinder lernen?» Helfen können auch Bilderbücher oder Lieder, mit denen man dem Alter und der individuellen Entwicklung entsprechend Rituale einbaut. «Die Lieder können gemeinsam mit den Kindern gehört und die einzelnen Themen besprochen werden», erklärt die Pädagogin Kaiser. Warum ist Höflichkeit wichtig? Ist dir jemand gegenüber schon einmal unhöflich gewesen? Wie hast du dich dabei gefühlt? So kann sich das Kind nach und nach das Verhalten der Eltern aneignen. Allerdings sollte man die kindlichen Reaktionen auch versuchen zu verstehen – und nicht jede Zuwiderhandlung als unhöflich abstempeln.
Kennen Sie das: Die Schoggi in der Bäckerei nimmt das Kind zwar entgegen, bringt aber kein «Danke» über die Lippen? Wie wichtig ist es Ihnen, dass Kinder verbale Umgangsformen befolgen – und wie reagieren Sie als Eltern in diesen Situationen? Diskutieren Sie mit der «wir eltern» Community in unserem Forum mit!
Unangenehme Grusssituation
Eine bei Linguistik Online publizierte Studie mit dem Titel «Warum Vorschulkinder nicht zurückgrüssen müssen» untersuchte 2007 das Grussverhalten von 20 Kindern aus gutsituierten Zürcher Familien zwischen vier und sieben Jahren. Trotz vermeintlich guter Erziehung kam heraus, dass die Kinder in über 80 Prozent der Fälle nicht verbal auf eine Begrüssung reagierten, den Blickkontakt dagegen aber meist aufrecht hielten. Zudem traten häufig Verlegenheitsgesten auf, beispielsweise Herumzupfen an der Kleidung, was ein Indiz dafür sein könnte, dass die Kinder die Grusssituation als unangenehm empfanden.
Denn laut Studie scheinen Kinder den Gruss des Erwachsenen nicht nur als Angebot, sondern bereits als «Einleitung der Phase erhöhter Zugänglichkeit» zu betrachten, was den Gegengruss überflüssig mache. Dementsprechend seien auch Kinder, die nicht aktiv zurückgrüssen, sehr wohl offen für eine zwischenmenschliche Interaktion, obgleich es für die Grossen anders aussehen mag.
Laut Roswitha J. Keller gibt es dafür mehrere Gründe. Zum einen gehe manchmal die Fantasie mit den Kindern durch – die «fremde» Person könnte ja schliesslich eine Hexe sein. Zum anderen mögen Kinder es oft nicht, direkt angeschaut zu werden. Ihr eigenes Ich sei noch zu instabil, was sie verlegen werden lasse. Als Erwachsener kann man allerdings leicht gegenlenken. Sich einfach auf ihre Höhe begeben und ihre Aufmerksamkeit auf etwas Nebensächliches lenken wie etwa die hübschen Zöpfe oder die schicken Schuhe. Dann steht einem Miteinander nichts mehr im Weg.
Das könnte Sie auch noch interessieren:
Samichlaus geht ja noch durch, als Teil unserer Rituale und Kultur. Eltern flunkern ihre Kinder aber auch in anderen Lebensbereichen an. Tun Sie es auch? Klicken Sie sich durch die Galerie der 10 Elternlügen, die jeder kennt.









