Schweizer Tafel
Armut im Minutentakt

Stefan Bohrer
Wir wühlen im Müll. Bis zum Ellenbogen stecken unsere Arme im Abfall eines Containers. Rohschinken, Ablaufdatum übermorgen: Müll. Ententerrine mit grünem Pfeffer, zu verkaufen bis kommende Woche: Müll; geriebener Emmentaler, weitere fünf Tage haltbar: Müll; Tomme, Tofu, Tomaten-Mascarpone: Müll, Müll, Müll. Alles ist noch problemlos essbar, nur verkaufen lässt es sich nicht mehr. Der akkurat erstellte Kassenbon, der am Container pappt, weist aus: Gesamtwert der abgeschriebenen Ware – 1006 Franken und 20 Rappen. Es ist ein kreuznormaler Dienstag für die Lebensmittelabteilung dieses Basler Kaufhauses.




Wir drei bringen jetzt Essen, das für den Markt nicht mehr taugt, zu Menschen, die für den Markt nicht taugen. Viele davon Mütter mit Kindern. Wir, das sind Tobias und Tobias, zwei Zivildienstleistende von der «Schweizer Tafel», und ich, die Journalistin.
Einen Tag lang begleite ich den Verteildienst von überschüssigen Lebensmitteln an Organisationen für Bedürftige durch Basel. Einen Tag lang Armut im Minutentakt. Diskret verdeckte Armut meist. Wer nicht will, der muss sie nicht sehen und kann sich stattdessen das rote Rathaus angucken, das hübsche Münster, den eiligen Rhein, sich in die Sonne setzen und glauben, sonnig sei es für alle. Überhaupt Armut – was genau ist das eigentlich in einem reichen Land, das laut World Happiness Report das weltweit glücklichste ist? Und wann ist jemand arm genug, damit seine Armut nicht zur Debatte steht? Jedes Jahr, wenn die Sozialverbände ihre Zahlen veröffentlichen, geht von Neuem eine giftige Diskussion los. 900 000 Menschen gelten laut Caritas-Daten in der Schweiz als arm, jeder Zehnte bis Dreizehnte, vielleicht ein Kind pro Schulklasse. Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des Einkommens der Bevölkerungs-Mehrheit zur Verfügung hat. So lautet die offizielle Definition. Aber ist unser arm auch arm genug für die ganze Schwere des Wortes arm? Das unwürdige Gezänk um «echte» Armut in Afrika, mehr oder weniger Arme, falsch arm und ein bisschen arm ist nicht totzukriegen. In schöner Regelmässigkeit ist etwas zu hören über die angeblichen Sozialschmarotzer, die, die nun wirklich selbst Schuld sind, über die Faulen, die einfach nicht wollen, und über diesen einen Dreisten, den man – stellt euch vor! – tatsächlich mit einem iPhone 6 gesehen hat. Ja, auch die gibt es, klar.
Irgendwie durchkommen
An diesem Tag allerdings sehen wir keinen davon, dafür einige aus unterschiedlichen Gründen mit weitem Schwung aus der Kurve Getragene. Und: zahllose Familien. Babys im Buggy. Alleinerziehende mit ihren Kleinen, Lillifee-Mädchen, Buben im FC Basel Trikot. 260 000 der von Armut Betroffenen sind in der Schweiz Kinder. Für einmal erledigt sich die Schuldfrage. Nicht aber die Frage, wie man als vierköpfige Familie vier Wochen über die Runden kommt mit weniger als 3990 Franken, als Mama von zwei Kindern mit weniger als 3582 Franken monatlich im Portemonnaie.
Sonja Grässlin stellt sich die Frage nicht. Jedenfalls nicht jetzt, dazu ist im Augenblick keine Zeit. Morgens um 7.30 Uhr ist in Pratteln, am Hauptsitz der Schweizer Tafel der Region beider Basel, Eile und Wegschaffen angesagt. Organisieren. Telefonieren. Motivieren. Schnell. Effizient. Hilfe, zack, zack. 475 Kilogramm Zucker müssen von einem Spender abgeholt werden, 2286 tiefgefrorene Gipfeli sollen nicht abtauen und verrotten, sondern irgendjemandes Hunger stillen. Dann sind da die Paletten mit Netzen voller Zitronen. Unkorrekt abgewogener Zitronen. Wenn 20 Gramm im Netz fehlen, macht der Kunde Ärger. Händler werfen in einem solchen Fall lieber palettenweise weg oder geben die Früchte – im besseren Fall – der «Schweizer Tafel». Angenommen und weitergeleitet wird von der spendenfinanzierten Organisation ausschliesslich tadellose Ware, deren Haltbarkeitsdatum noch einige Tage in der Zukunft liegt. «Zitronen nur für die Tour mit den grossen Küchen», ruft Sonja Grässlin, drückt der Journalistin resolut einen Becher Kaffee in die Hand und ein Töpfchen Apfelmus aus den Beständen. Warum das Apfelmus ausgemustert wurde? Sonja Grässlin muss selber suchen: «Falsch etikettiert. Es steht ‹sans sucre› drauf. In der Deutschschweiz müsste es aber ‹ohne Zucker› heissen.» Fazit: «Abfall». Der Abfall schmeckt ausgezeichnet.
«Dumme Verschwendung»
250 000 Tonnen noch essbarer Nahrungsmittel landen in der Schweiz jährlich im Müll. «Das ist doch dumme Verschwendung», sagt die 48-jährige Holländerin und sorgt dafür, dass hier die Logistik für die Region Basel reibungslos klappt. Täglich 17,4 Tonnen Lebensmittel verteilt die Schweizer Tafel landesweit an soziale Institutionen wie Gassenküchen, Hilfswerke, Frauenhäuser, Wohnheime und Kirchen mit Abgabestellen für Menschen in Not. 500 Spender und die Zusammenarbeit mit dem ‹Tischlein deck dich› sorgen dafür, dass Bedürftige hoffentlich ab und an ein wenig sorgloser und satter schlafen können. Sonja Grässlin wirbelt durch die Gänge. Ihr Fahrrad war kaputt. Das hat ein paar Minuten gekostet. Schnell, schnell jetzt durchs Treppenhaus gesaust, in dem die Lang AG mit dem Werbeslogan «Kompetenz rund um Ihren Pool» ihren Service anbietet für die Leute auf der flauschigeren Seite des Lebens. Sonja Grässlin flitzt zum Kühlhaus, ins Lager, zur Rampe, wo 15 Kartons mit Bananen warten. Die Zivis werden auf Transporter verteilt, Einsatzpläne herumgereicht, Freiwillige eingewiesen und ein Helfer wie Ueli daran gehindert, zum ungünstigsten Zeitpunkt der Besucherin seine Geschichte zu erzählen: Wie ihm mit 51 im Fotobusiness gekündigt wurde und er, seine Frau und die vier Kinder plötzlich nicht mehr ein noch aus wussten, weil man mit über 50 und einem Beruf von gestern keinen Job für morgen mehr bekommt. Ueli soll ein andermal erzählen, die Bananen müssen versorgt und die Osterhasen von Chocolat Frey, die im September endgültig ausgehoppelt haben, auf die Mercedes Sprinter verteilt werden. Und dann – los.
Ich sitze zwischen Tobi und Tobi, zwei Wirtschaftsstudenten, die hier Zivildienst leisten. Beide sehen aus, als könnte man mit ihnen prima für Vollkornmüesli, Energieriegel oder Multivitaminsaft werben. Wirtschaft studieren und täglich mit den Abgewirtschafteten der Gesellschaft arbeiten – wie geht das für die beiden zusammen? Fragende Blicke aus zwei Paar Augen. «Ich promoviere gerade über die Umweltfolgen des internationalen Handels», sagt Tobias Erhardt (32). Er ist vor neun Monaten Vater geworden, Verantwortung für die Welt um ihn herum zu übernehmen, findet er nicht erst seitdem so selbstverständlich wie das Grüezi zur Begrüssung. Auch Tobias Feisst (25) guckt die Mitreisende an, als habe sie sich an diesem heissen Spätsommertrag beklagenswerterweise einen Sonnenstich eingehandelt. «In zwei Monaten reise ich durch Lateinamerika.» Angst vor der Wirklichkeit, wie sie nun mal ist, kennen die beiden nicht. Sie sehen sie sich jeden Tag an. Ohne Weichzeichner und rosarote Brille, aber doch mit der festen Überzeugung, dass es gut ist, bei Gutem mitzutun. Deshalb wuchten die beiden jetzt elf Brotkisten vom Migros Schönthal und schleppen von anderen Migros- und Coop-Filialen Salat und Obst, Joghurt und Gemüse.
Ein Tag auf Tour
10.35 Uhr: Tagesheim für Obdachlose. «Dürfen wir zwei oder drei dunkle Brote haben?», fragt der Koch Rolf Feuz. «Vielleicht auch noch Orangensaft? Der hat Vitamine.» Seit 13 Jahren kocht Feuz für 25 bis 40 Männer. Budget? «Eigentlich keins.»
10.51 Uhr: Tavero. Die Cateringfirma von Roche ist stets gut für reiche Beute. Auch heute. Laugensandwiches mit Schinken stehen zum Abholen bereit, Paprikasalat, Randen, Pastetli, Reissalat, Crevettencocktails. 14 Kisten schleppen die beiden Zivis in den Sprinter. Im «Blick» wird das Mitarbeitermagazin des Pharmariesen Roche zitiert: 2013 wanderten demnach 7 Tonnen Lebensmittel allein am Hauptsitz Basel in den Kübel, das sind 15 Prozent aller eingekauften Esswaren. 4,2 Tonnen Lebensmittel-Müll entsteht bei Tavero-Roche durch Häppchen fürs Sitzungszimmer und Apéros.
11.07 Uhr: Notschlafstelle. 87 Betten für Männer, 12 für Frauen. Fast alle sind auch im Sommer belegt. Hunger hat jeder, der hierhin zum Schlafen kommt.
11.16 Uhr: Gassenküche. 120 bis 150 Menschen holen sich hier täglich ihr Abendessen, 80 das Frühstück. Die beiden von der Schweizer Tafel verteilen vor allem Brot: Paillasse und Baguette, langes Brot, rundes, Vollkorn und Weissmehl, geschnitten und am Stück. Egal. Satt soll es machen.
11.22 Uhr: Wohnheim der Heilsarmee. 40 Bedürftige leben im Männerhaus, 30 im Heim für Frauen. «Danke, nein, keinen Reissalat, der wird schnell hart. Crevettencocktail auch besser nicht, bei der Wärme weiss man nie. Aber gerne Randen und Rüebli.» Brot? Ja. Orangensaft? Ja. Danke! Der Koch sieht zufrieden aus.
11.34 Uhr: Treffpunkt Glaibasel. Auch Drogensüchtige im Methadonprogramm brauchen hin und wieder eine Mahlzeit. Süsses aller Art geht hier gut und Sachen, die man nicht kauen muss. Das Apfelmus wär hier was. 20 Leute kommen regelmässig zum Mittag. Die Tobis holen wieder Ware ab. Beim Obst und Gemüse Grosshandel Markensteiner ist es kalt. Alle tragen hier Faserpelz. Die Tobiasse schwitzen, als sie kiloweise Brombeeren und Himbeeren, Lauch und Tomaten verladen. Alles ist noch tadellos, übermorgen aber vielleicht nicht mehr.
Ohne Pause, nur mit einem Sandwich im Stehen, geht es weiter: Vermittlungsstelle für Langzeitarbeitslose, danach Auffangstelle für 40 austherapierte Drogensüchtige. Kann es sein, dass von einem Menschen nur ein Schatten übrig bleibt, an dem sich beim besten Willen nicht erkennen lässt, ob diese Person 25, 40 oder 55 Jahre alt ist? Ja, das kann sein.
13.37 Uhr: Manor. Der Sprinter liegt anschliessend deutlich tiefer auf der Strasse.
14 Uhr: Vineyard. Vineyard ist eine freie Kirchgemeinde. Eine, die diese Bedürftigen hier jetzt nicht missioniert oder zum Beten drängt. Ab 14.30 Uhr werden gegen ein Berechtigungskärtchen Lebensmittelsäcke abgegeben. Jeder davon wiegt rund 6 Kilo. Als wir ankommen, steht draussen schon eine lange Schlange. Farbige Mütter mit Tragetuch, eine flotte ältere Dame in weisser Jeans und pastelligem Poloshirt. Osteuropäische Familien mit hüpfenden Kleinkindern. Noch vor einem Jahr holten sich hier dienstags 140 Familien Essenstüten ab. Heute sind es 250. Woche für Woche.
Nathalie Kübler (Name geändert) gehört dazu. Fast jeden Dienstag ist die 32-Jährige hier. Draussen warten tut sie nicht gern. «Ich schäme mich. Wissen Sie, es geht ja nicht jeden etwas an, dass wir so arm sind.» Ansehen tut man es der hübschen Frau mit den hellen Augen und den glänzenden braunen Haaren jedenfalls nicht. Eine Woche später sitze ich in ihrem Wohnzimmer. Da redet es sich doch ungestörter. Kein Stäubchen hat sich in die Wohnung verirrt. Neben der Tür hockt ein grinsendes kniehohes Sparschwein mit einer grasgrünen Schleife auf dem Rücken. Nathalie Kübler lacht. «Das Schwein stand an der Strasse. Jetzt sammle ich darin Münzen, damit meine Kinder mal das Meer sehen können.» Bisher hat es dazu nicht gereicht, obwohl die Tochter 13, der Sohn 11 Jahre alt ist. Wieso es dazu nie gereicht hat? Nathalie Kübler spricht leise. Eigentlich flüstert sie ihre Geschichte eher, als dass sie sie erzählt. «Ich habe keine Ausbildung. Mein Vater hat sich, als ich neun Jahre alt war, umgebracht und meine Mutter stand danach irgendwie neben sich.» Naja, und dann kam da später dieser Mann – 10 Jahre älter, charmant. Leider auch krankhaft eifersüchtig. «Arbeiten? Du willst doch nur mit den Männern da rummachen!» schrie er an schlechten Tagen. Mit den Kindern kamen zum Streit die Schläge. Grobgliedrige, dicke Silberketten für um den Hals hinterlassen böse Striemen an den Beinen der Ehefrau. «Er wollte nicht arbeiten, und ich durfte nicht», erzählt die junge Frau und giesst vom selbstgemachten Eistee ein. Irgendwann wurden die Schläge so alltäglich, dass sie selbst draussen auf dem Spielplatz seine Faust ins Gesicht bekam und ihre Tochter nur noch lapidar den Bruder ermahnte: «Nicht stören, der Papa haut wieder die Mama.» Nathalie Kübler schaffte den Absprung, zog ins Frauenhaus, wurde geschieden, bekam eine eigene Wohnung. Nur mit der Ausbildung, das klappte nie. «Ich würde gern eine Lehre als Kleinkinderzieherin machen. Aber dafür brauche ich ein Praktikum. Beim Amt heisst es aber: Wer hundert Prozent im Praktikum arbeiten kann, der kann auch hundert Prozent bezahlt arbeiten. So komm ich da nie raus. Da bleibt es auf ewig bei Jöbchen und Aushilfsstellen.» Sie guckt auf das Schwein: Ob das wohl jemals fett genug wird? Ihre Tochter kommt jetzt aufs Gymnasium. «Ich bin total stolz. Hoffentlich braucht sie keine Nachhilfe, die kostet so viel.» Sie selbst kleidet sich grundsätzlich nur auf dem Flohmi ein. Nathalie Kübler hat keine hohen Ansprüche. Vielleicht hat sie deshalb auch die Postkarte an die Wand in ihrem Flur gepinnt: «Glück ist, wenn die Katastrophe eine Pause nimmt.»
Tobi und Tobi fahren weiter. Wir holen Wassermelonen, Tomaten und Gemüse bei Lidl. Dann geht es zurück nach Pratteln.
17 Uhr: Dienstschluss. Die übriggebliebene Ware wird ins Kühlhaus geräumt. Und morgen geht es wieder los: Abholen, austeilen, neue Schicksale, neue Geschichten. Wie Donnerstag, wie Freitag … Auf der Freitagsroute hält der Wagen der Schweizer Tafel an der Elisabethenkirche , wo die Basler Winterhilfe Lebensmittel an Bedürftige verteilt. Von 13 bis 15 Uhr hilft Tina Spillmann (Name geändert) bei der Abgabe – und holt Essen für sich und ihre fünfköpfige Familie. Ob ihr noch Stolz geblieben sei? Die 45-Jährige sieht der Fragerin fadengerade in die Augen. Eine Minute später: «Doch, ja, den hab ich. Ich finde nämlich, dass ich so furchtbar viel nicht falsch gemacht habe», sagt sie bestimmt. Falsch sah in ihrem Leben auch zunächst nichts aus. Tochter eines in den Schweizer Medien häufig präsenten erfolgreichen Künstlers und einer Kindergärtnerin. Gottenmeitli eines mit Preisen überhäuften deutschen Kabarettisten. Selber Schülerin der Kunstgewerbeschule, Modefachklasse. An den Wänden ihrer jetzigen Wohnung hängen tolle Bilder, alle made by family. Dann kam die Pubertät, sie schmiss die Schule, lernte ihren heutigen Mann kennen, drei Kinder, Jobverlust, Aussteuern, Depressionen bei ihm, schwere Gelenkerkrankung bei ihr. Jetzt erledigen ihre beiden grossen Söhne den Putzjob der Mutter, damit die fünf über die Runden kommen. Dabei hat ihr Mann sogar wieder eine Arbeit als Abwart. «Aber die 20 000 Franken Schulden für Steuern, Computer, Ferien, Auto, die wir in unserer schlimmsten Zeit gemacht haben, die kriegen und kriegen wir einfach nicht weg …»
Tina Spillmann gibt Leon (13), ihrem Jüngsten, einen Kuss: «Viel Spass beim Fussball.» Türknallen, weg ist er, Sportsack über der Schulter. «Die Kinder haben eigentlich alles. Meine Eltern schenken ihnen enorm viel. Das ist entlastend fürs Budget – und demütigend.» Mit Ratschlägen, spitzen Kommentaren und scharfer Kritik an ihr und ihrem Mann geizen Tinas Eltern noch weniger als mit Geschenken für die Enkel. 45 Jahre und nicht lebensfähig ohne Mama und Papa … Tina hat für sich jetzt den Kontakt abgebrochen, so klein will sie sich nicht ewig fühlen. «Wir schaffen es auch allein», sagt sie. «Irgendwann.»
Und am Montag fährt der Transporter der Schweizer Tafel wieder. Acht Stunden lang Überfluss und Armut, immer schön abwechselnd.