Einblick in die Arbeit einer Familienbegleiterin
Begleitung, wenn es schwierig wird

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Hella Anhuiser ist das, was der Volksmund heute als Supernanny bezeichnet. Im Auftrag der Firma «Sozialpädagogische Familienbegleitung plus» betreut sie Eltern in besonders schwierigen Lebenssituationen. Den Ausdruck Supernanny mag sie nicht besonders. «Die Fernsehsendung gaukelt vor, daß Erziehungs- und Familienkonflikte innert kurzer Zeit zu lösen sind, doch nachhaltige Veränderungen brauchen meist mehr Zeit.»
Die Familie, die Hella Anhuiser heute besucht, begleitet sie seit bald zwei Jahren. Andrea Frei (alle Namen geändert) lebt mit ihren zwei Kindern in der Parterrewohnung einer grossen Überbauung. Die Kinder lassen sich nicht blicken, nur ihre Fahrräder stehen mitten im Gang. Noch vor der Begrüssung entschuldigt sich Andrea Frei dafür. Die Wohnung selbst ist tadellos aufgeräumt, strahlend sauber und mit viel Liebe eingerichtet – und das, obwohl die Familie erst kürzlich umgezogen ist.
Mit den zum Teil schrägen Vögeln, die in der «Supernanny» zur Show gestellt werden, hat Andrea Frei gar nichts gemein. Gross ist sie, schick und gepflegt. Auf den ersten Blick wirkt hier alles so normal und nett, dass man sich fragt, was eine Sozialpädagogin in dieser Familie tut. Doch im Verlauf des Gesprächs wird einem Aussenstehenden schnell klar, was bei Andrea Frei schiefläuft.
Ihr Selbstvertrauen ist winzig. Dauernd hat sie das Gefühl, etwas falsch zu machen, nicht zu genügen, ganz zu versagen. Jede Kritik – und sei sie noch so ungerechtfertigt – wirft die psychisch labile Frau völlig aus der Bahn, zieht sie runter, verunsichert sie. «Immer hat er etwas an ihnen auszusetzen», antwortet sie auf die Frage nach dem letzten Besuchswochenende der Kinder beim Vater.
Eine Bemerkung trifft ins Mark
Obwohl die Eltern seit über zwei Jahren geschieden sind, traf sie die spitze, aber recht banale Bemerkung, die Haare des Sohnes seien zu lang, bis ins Mark. Doch statt dass Ärger oder Wut über die Mäkelei in ihr hochsteigen, zweifelt sie gleich an sich selbst. Hat er recht? Ist sie nicht mal in der Lage, ihre Kinder ordentlich zu frisieren? Selbstzweifel sind ihr ständiger Begleiter. Waren ständig ihr Begleiter.
Denn später erzählt sie von ihrem Elternhaus und davon, dass sie ihrem alkoholkranken Vater nichts recht machen konnte. Ihrem Ehemann ebenfalls nicht. Hella Anhuiser bespricht vor allem das Vorgehen des Expartners und schlägt der Mutter vor, die Sache direkt mit ihm zu bereden. Nachdem sie erfahren hat, dass der 8-jährige Martin nichts gegen einen Haarschnitt einzuwenden hat, schlägt sie vor dem nächsten Besuch beim Vater einen Termin beim Coiffeur vor. Ein Streitpunkt weniger.
«Und wie verlief die letzte Woche sonst?», fragt die Familienbegleiterin. Jetzt bricht Andrea Frei in Tränen aus, entschuldigt sich sofort wieder für den Gefühlsausbruch und berichtet von einem Wochenende voller Einsamkeit und davon, dass sie ohne die Kinder nichts mit sich anzufangen wisse. Ausserdem belastet eine unerwartete Rechnung das Familienbudget. Sie betrifft den Hund, der nur mit einer Operation gerettet werden konnte. «Hingen die Kinder nicht so an diesem Tier, hätte ich ihn einschläfern lassen», sagt Andrea Frei – und schon wieder hat man das Gefühl, dass sie sich nur schon für den Gedanken entschuldigt.
Angst, etwas falsch zu machen
Das Sozialamt habe sich zum Glück bereit erklärt, die Rechnung zu übernehmen, erzählt sie weiter. Das erleichtert sie zwar, aber wirkliche Freude kommt nicht auf. Das schlechte Gewissen über die finanzielle Abhängigkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben – obwohl sie einen Teil ihres Lebensunterhaltes inzwischen selbst verdient. Die Scham über die Abhängigkeit vom Sozialamt ist so gross, dass sie die Treffen mit der Sozialarbeiterin lange vor den Kindern verheimlichte. Erst von Hella Anhuiser erfuhr sie, dass Kinder mit solchen Situationen meist besser zurechtkommen als Erwachsene, sofern offen darüber gesprochen werden darf. Inzwischen konnte sich Andrea Frei dazu durchringen, ihren Sohn über ihre finanzielle Situation aufzuklären.
Um die Kinder kümmert sie sich geradezu aufopfernd – und hat doch immer wieder das Gefühl, die Situation entgleite ihr. Obwohl sie versucht, alles richtig zu machen. Gerade weil sie versucht, alles richtig zu machen. Angeregt wurde die Familienbegleitung denn auch von einem Arzt, dem die grosse Unsicherheit der Mutter aufgefallen war. Obwohl sich beide Kinder normal entwickelten, suchte sie immer wieder Rat bei ihm. Hat der Kleine nicht vielleicht dieses? Sollte das Mädchen vielleicht jenes längst machen können? Ist wirklich alles in Ordnung?
Auch jetzt macht sich Andrea Frei unablässig Sorgen, weil der Zweitklässler Martin es nicht schafft, sich seine Aufgaben zu merken. In den letzten Monaten hat sie das Problem auf ihre eigene Art gelöst, sich mit ihm hingesetzt und versucht herauszufinden, was die Lehrerin verlangen könnte, es ihr recht zu machen. Oft gelingt es ihr, doch manchmal liegt sie auch falsch. Dann wird Martin, der sich inzwischen daran gewöhnt hat, die Verantwortung auf seine Mutter abzuschieben, wütend und beschuldigt sie, nicht lange genug nachgedacht zu haben. Dass er selbst nach einem Weg suchen muss, die Aufgaben nicht dauernd zu vergessen, wurde schon mehrmals mit ihm besprochen.
Doch Andrea Frei fällt es schwer, die theoretischen Erläuterungen in die Praxis umzusetzen, und ihren Sohn notfalls auch ohne Aufgaben in die Schule gehen zu lassen, zu sehr sitzt in ihrem Kopf, dass nur sie allein dafür zuständig ist, daß alles richtig läuft. Die Familienbegleiterin hat vor Kurzem ein Gespräch mit der Lehrerin vorgeschlagen, um eine Lösung zu finden. Nachdem der Termin dafür feststeht, motiviert Hella Anhuiser die Mutter, Fragen zu notieren, damit nachher die Unsicherheiten verlässlich beseitigt sind.
Depressionen und Zweifel
Dann diskutieren sie über die jüngere, knapp 4-jährige Maria. Andrea Frei glaubt, dass sie zu wenig Fortschritte macht und im Kindergarten überfordert sein wird. Hella Anhuiser teilt diese Meinung nicht. Sie hat im Gegenteil sogar das Gefühl, Maria habe in der letzten Zeit sehr grosse Fortschritte gemacht. Weil Andrea Freis Zweifel bestehen bleiben, fordert Hella Anhuiser die Mutter dazu auf, zur Sicherheit ein Gespräch mit der Spielgruppenleiterin zu vereinbaren. «Danach sehen wir weiter.»
Im Verlauf des Besuchs wird deutlich, dass Andrea Frei alles daransetzt, dass sie und die Kinder nicht negativ auffallen. Grundlos ist ihre Sorge nicht. Während der Scheidung beantragte der Vater das Sorgerecht für die Kinder mit der Begründung, seine von Depressionen geplagte Frau sei mit der Erziehung überfordert. Vor Gericht kam er damit nicht durch, doch das Selbstbewußtsein von Andrea Frei hat unter dem Scheidungskrieg massiv gelitten, das Gefühl, ständig beweisen zu müssen, dass er Unrecht hat, erzeugt zusätzlichen Druck.
Dass keines der Kinder anwesend ist und die zwei Frauen völlig ungestört arbeiten können, ist laut Hella Anhuiser eher ungewöhnlich. Normalerweise sind bei ihren Besuchen alle Familienmitglieder dabei. «Gerade die älteren Kinder setzen sich normalerweise dazu und erzählen, was sie seit unserem letzten Treffen erlebt haben.» Oft freuen sie sich schon Tage im Voraus auf den Besuch der Familienbegleiterin. Sie erleben die Unterstützung häufig noch mehr und früher als ihre Eltern als Befreiung aus einer aussichtslosen Situation.
Bei den Besuchen nehmen die Familienbegleiterinnen während Stunden am normalen Alltagsleben teil. Sie zeigen den Eltern, wie man Kinder motivieren könnte, ihre Zimmer aufzuräumen. Sie regen dazu an, mal mit ihnen «Eile mit Weile» zu spielen oder gemeinsam Röschti mit Spiegeleiern zu kochen, und manchmal essen sie auch mit der Familie. Nicht selten erleben die Kinder dabei zum ersten Mal, wie das ist, wenn sich alle gleichzeitig um den Tisch versammeln. «Üblicher ist, dass sich jeder aus dem Kühlschrank bedient und mit dem Essen vor den Fernseher oder in sein eigenes Zimmer verschwindet.» Gespräche bei Tisch finden in den von Hella Anhuiser begleiteten Familien kaum statt. Auch abends fehlt es vielerorts an Ritualen, mit denen die Kinder zur Ruhe und dann ins Bett gebracht werden. Das Resultat sind überforderte Eltern, die im besten Fall schreien, im schlechtesten schlagen, und weinende Kinder, denen Trauer und Verzweiflung den Schlaf rauben.
Jede Familie ist anders
An Tagen, an denen Hella Anhuiser zusammen mit den Eltern ein altersgemässes Einschlafritual einübt, enden ihre Arbeitstage spät. Im Moment begleitet sie ausschliesslich allein erziehende Mütter, die sich ihre Zukunft oft ganz anders vorgestellt hatten. Auch Franziska Müller musste sich von ihrem Traum eines intakten Familienlebens verabschieden. Nach der Geburt des zweiten Kindes fiel die 30-Jährige in eine schwere Wochenbettdepression und ging kaum mehr aus dem Haus. Ihr Mann bemerkte nichts davon, verliebte sich in eine andere und liess seine Frau trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes mit zwei Kleinkindern sitzen. Franziska Müller wuchs die Situation komplett über den Kopf.
Eines Abends sah sie keinen anderen Ausweg mehr und schluckte ein Röhrchen Schlaftabletten. Erst als sie keine Luft mehr bekam, tauchte der Gedanke an ihre beiden Kinder auf. Sie holte per SMS Hilfe und kam in ein Krankenhaus, wo sie zum ersten Mal von der sozialpädagogischen Familienbegleitung hörte. «Anfangs war ich skeptisch, doch die Familienbegleiterin half mir, Ordnung in mein Chaos zu bringen und brachte mich Schritt für Schritt dazu, mich mit den Kindern wieder nach draussen zu trauen.»
Auf den ersten Blick mögen Franziska Müller und Andrea Frei ähnliche Probleme haben. Beide sind alleinerziehend, haben sehr belastende eigene Kindheitserfahrungen und leiden enorm unter ihrer Einsamkeit. Sie haben nie mit jemandem über ihre Situation gesprochen und versucht, alleine klarzukommen. Hilfe haben beide erst angenommen, als die Probleme auch für Aussenstehende offensichtlich wurden. Trotz all dieser Parallelen sieht sich die Fachfrau mit zwei verschiedenen Persönlichkeiten und ganz anderen Ausgangslagen konfrontiert. «Keine Familie ist wie die andere», sagt Hella Anhuiser. Das macht ihre Aufgabe einerseits sehr spannend, fordert anderseits aber auch eine grosse Flexibilität und fundierte Sachkenntnisse.
Im Gegensatz zu einer Supernanny vermittelt sie keine Rezepte per Crashkurs, sondern sucht zusammen mit allen Familienmitgliedern Lösungen, die zwar in erster Linie dem Wohl des Kindes dienen, aber auch für die Eltern stimmen müssen. Nur dann klappt es langfristig. Für alle.
Sozialpädagogische Familienbegleitung auf einen Blick
In der Schweiz kennt man die sozialpädagogische Familienbegleitung seit über 20 Jahren. «Die Probleme innerhalb der Familien waren damals praktisch dieselben», sagt Linda Furrer. Sie hat das Angebot in einem Pilotprojekt der Pro Juventute mit aufgebaut und leitet heute eine von drei SpFplus Regionalstellen, die sich im Sommer 2007 von der Pro Juventute gelöst haben. Die Aufträge für eine Familienbegleitung kommen von Vormundschaftsbehörden, Sozialdiensten, Jugend- und Familienberatungen, Jugendanwaltschaften oder Kleinkindberatungsstellen, manchmal auch von ärztlichen Diensten, Therapeuten oder Schulen. Neben vielen regional organisierten Vereinen, die seit Jahren erfolgreich mit dem Konzept arbeiten, bieten auch immer mehr Einzelpersonen ihre Dienste als Familienbegleiter oder -coaches an. Weil weder die eine noch die andere Berufsbezeichnung geschützt ist, hat der Dachverband «Sozialpädagogische Familienbegleitung Schweiz» inzwischen Kriterien und Standards erarbeitet, die von seinen Mitgliedern erfüllt werden müssen. Finanziert wird das Angebot in der Regel mit Sozialgeldern, die vom Wohnort der jeweiligen Familie bewilligt werden müssen.
Mehr Informationen zu Familienbegleitung und Adressen in der Region findet man unter www.spf-fachverband.ch und www.spfplus.ch