Das kindliche Spielen
«Beim Spielen nicht stören»

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wir eltern: Frau Stöcklin-Meier, spielen Kinder heute anders als früher?
Susanne Stöcklin-Meier: Im Prinzip haben sie immer schon das Gleiche zum Spielen gebraucht: Material, Raum und andere Kinder. Tatsächlich aber haben Kinder heute viel weniger Platz und Zeit. Früher liefen sie einfach durch den Hof und spielten mit dem, was sie fanden. Heute stresst es Eltern schnell, wenn Einjährige Schubladen ausräumen oder Unordnung schaffen. Kinder werden auch weniger in den Alltag eingebunden, obwohl sie das Nachahmen und Helfen so lieben. Aber einen Fruchtsalat schneiden lassen oder gemeinsam einen Zopf backen, braucht eben Zeit. Und hinterlässt meist Sauerei. Was viele Mütter heute nicht aushalten. Dennoch sollte man das normale Mithelfenwollen unbedingt tolerieren. Verpasst man hingegen, Kinder einzubinden, wenn sie dies wollen – was so zwischen 3 und 5 Jahren der Fall ist –, lassen sie sich später erfahrungsgemäss nur mit Mühe dazu ermuntern.
Kinder verlangen beim Spielen heute zunehmend nach Anleitung, beobachten Erzieherinnen.
Das stimmt zum Teil. Kinder sind heute sehr gefördert und dadurch manchmal überlastet. Deshalb darf es ihnen ruhig auch mal langweilig sein. Wenn sie dann jammern: «Ich weiss nicht, was ich spielen soll», sollten Eltern nicht gleich mit einem Angebot kommen, sondern Kindern vielmehr Zeit geben, sich selbst zu arrangieren. Denn Langeweile ist gut. Es braucht diese manchmal, um auf Ideen zu kommen. Viele Eltern aber haben Mühe, dies auszuhalten.
Wie viel Zeit brauchen Kinder denn zum Spielen?
Das freie Spiel ist die Lebensform des Kindes. Im Durchschnitt spielt es in den ersten sechs Lebensjahren rund 15 000 Stunden.
Und was passiert, wenn ein Kind weniger Gelegenheit zum Spielen hat als die erwähnten 15 000 Stunden?
In meinen Seminaren berichten Erzieherinnen zunehmend von Hyperaktivität und motorischen Unterentwicklungen, von fahrigen und unkonzentrierten Kindern. Kindergartenkinder können zum Teil nicht mehr selbst die Schuhe oder Jacke anziehen, Reissverschlüsse oder Knöpfe zumachen, geschweige denn alleine aufs WC gehen.
Weshalb?
Weil sie zu lange verwöhnt und unselbstständig gemacht werden. Und weil sie oft zu wenig Gelegenheit zum freien Spiel haben.
Das freie Spiel ist also nicht nur Zeitvertreib, sondern Entwicklungschance?
Das freie Spiel ist sehr wichtig. Denn Kinder entwickeln dabei alle Sinne, ihre Muskeln von Kopf bis Fuss und die Motorik. Ausserdem werden soziale Kontakte gefördert, sowie die Sprache. Weiter lernen sie im Spiel zu gewinnen und verlieren, oder wie es ist, zu führen und geführt zu werden. Auch Konflikte auszutragen, lässt sich dabei üben; genauso wie zu spüren, was ein schöner oder blöder Moment ist.
In welchem Alter spielen Kinder wie?
Babys greifen, beissen, werfen und rollen ihr Spielzeug oder beobachten Mobiles. Sehr früh fangen dann auch schon Rollenspiele an. Diese sind sehr wichtig, denn dabei identifizieren sich Kinder mit ihrem Umfeld. Mit Puppen, Stofftieren, Kasperletheater oder kleinen Weltfiguren – wie etwa Playmobil – können sie ihren Alltag nachspielen. Dies ist eine wahre Fundgrube für den Wortschatz. Mit etwa einem Jahr fangen dann Bewegungsspiele an: Zunächst werden Enten hinterher gezogen oder Schiebkarren, kurz darauf folgt das erste Rutschauto, später das Dreirad und im Vorschulalter das Trottinett. Ab etwa zwei Jahren ist das Bauen ein Thema. Was zunächst Klötze aus Holz oder Lego sind, werden im Schulalter Elektrobaukästen oder Modellflieger. Auch Ballspiele begleiten Kinder oft jahrelang: Das Baby beginnt vielleicht mit einem Ball aus Frottee, später wird dann Tischtennis oder Fussball daraus. Lernspiele wie Quartett oder Memory werden etwa ab Kindergartenalter interessant, genauso wie Brett- und Kartenspiele.
Andererseits machen sich aber Eltern heute sehr viele Gedanken über die Förderung der Feinmotorik und pädagogisch wertvolles Spielzeug.
Ja, genau! Und übertreiben es gleichzeitig mit der Förderung. Als Resultat kollabiert dann das Kind und macht gar nichts mehr. Natürlich gibt es auch wunderbare Eltern. Trotzdem ist dies ein absurder Trend. Dabei ist es so wichtig, die Selbstständigkeit des Kindes zu fördern. Doch dies braucht Geduld, Vertrauen in das Kind und Zeit. Und davon gibt es heute oft zu wenig.
Aber auch Stundenpläne lassen oft gar nicht mehr viel freies Spiel zu – selbst wenn man es nicht übertreibt mit Ballett und Co. Wie sollen sich Eltern hier verhalten?
Das Wichtigste erscheint mir, Kinder nicht zu verplanen. Und wenn man etwas anfängt, es auch durchzuziehen. Zwei Monate Karate, zwei Monate Flöte bringen nichts. Stattdessen durchhalten, bis sich Freude und Erfolg einstellen. Aber wenn es absolut gar nicht passt, sollte man auch nicht so dogmatisch sein und auf Teufel komm raus weitermachen. Ausserdem wichtig: Wenn Kurse belegt werden, dann am besten welche im eigenen Quartier, um soziale Kontakte aufzubauen. Denn dort sind die gleichen Kinder anzutreffen wie in Kindergarten und Schule.
Sind es heute eher die Eltern, die zum richtigen Spielen erzogen werden müssten?
Ja, eindeutig! Spielverse, Kinderlieder, Geschichten und Märchen sind so wichtig, doch viele Eltern kennen diese nicht mehr. Kinder jedoch lieben deren dauernde Wiederholung. Tatsächlich löst alles, was altersgerecht ist, einen Wiederholungstick aus. Wenn Sie Ihrem Kind also eine Geschichte vorlesen, und es spielt diese anschliessend nicht nach, malt nichts darüber oder will sie nicht noch 95 weitere Male vorgelesen bekommen, war es wohl das falsche Kind, zur falschen Zeit oder eine falsch verkaufte Geschichte. Wiederholungsticks nerven Eltern. Aber damit es eine bleibende Rille gibt im Gehirn, braucht es etwa 50 Wiederholungen. Eltern sollten sich also freuen, wenn Kinder von sich aus etwas immer und immer wieder machen möchten.
Als Erwachsener kann man geradezu neidisch werden, wenn man beobachtet, wie versunken und alles um sich herum vergessend Kinder spielen.
Und deshalb sollte man sie dabei auch nicht stören. Aber die Kleinen spielen ja oft gerade dann am schönsten, wenn das Essen auf dem Tisch steht oder sie ins Bett gehen sollen. In diesen Fällen muss man halt unterbrechen. Doch wenn es einigermassen passt: Unbedingt weiter spielen lassen! Denn ein Kind, das konzentriert spielen kann, vermag später auch in der Schule konzentriert zu lernen.
Ab welchem Alter ist es mit diesem in sich versunkenen Spiel vorbei?
Idealerweise gar nicht; es verändert sich nur. Statt sich versunken mit Bauklötzen oder Playmobil zu beschäftigen, ist es irgendwann vielleicht ein Buch, der Chemiekasten oder der Fussball. Kinder, die früh intensiv spielen, haben später oft intensive Hobbys.
Wie sollten Eltern reagieren, wenn das Töchterchen sich nicht für pädagogisch wertvolles Spielzeug interessiert, sondern im rosa Barbie-Kitsch schwelgt und Sohnemann nur mit Spielzeugwaffen herumballern möchte?
Ein gewisser Kitsch und Glimmer gehört einfach dazu. Wenn Kinder sich schminken und verkleiden und auch mal in Mamas Schuhen herumstöckeln dürfen, ist es in der Pubertät vielleicht nicht mehr nötig, als Stadtindianer mit Piercings aufzutreten. Ausserdem: So lange Barbie nicht ausschliesslich bespielt, sondern mit anderem Spielzeug gemixt wird, wie es Kinder gerne tun, ist alles gut. Ich wäre hier grosszügig. Verbieten hat nur zur Folge, dass der Wunsch unverhältnismässig riesig wird. Dies gilt auch für Spielzeugwaffen. Von Ende der Kindergartenzeit bis etwa zur 3. Klasse gehören Colts und Pistolen bei Rollenspielen einfach dazu.
Susanne Stöcklin-Meier, die 73-jährige Spielpädagogin und Erzieherin, lebt in Diegten (BL). Sie ist Autorin einer Vielzahl von Büchern für Kinder und Eltern, Referentin bei Fortbildungen für Erzieherinnen sowie Dozentin bei pädagogischen Kongressen und Veranstaltung für Eltern.
Buchtipps:
Susanne Stöcklin-Meier: Sprache des Herzens. Wie wir Kindern eine reiche Kindheit schenken. Kösel Verlag 2010, Fr. 27.90
Susanne Stöcklin-Meier: Falten und Spielen. Intelligent durch geschickte Finger. Kösel Verlag 2010, Fr. 24.90
Susanne Stöcklin-Meier: Spielen, Bewegen, Selbermachen und zusammen lachen. Orell Füssli 2010, Fr. 32.90