Blog
DU bist schuld – woran weiss ich nicht

istockphoto
«Du weisst genau warum, Papa!» Meine 10 jährige Tochter funkelt mich bitterböse über den Rand ihrer Brille an und schürzt voller Abscheu die Lippen. Ich habe keine, aber wirklich überhaupt keine Ahnung, was ich gemacht haben soll. Die Situation stellt sich wie folgt dar: In meinem Wohnzimmer steht eine zornige kleine Rachegöttin und ich weiss nicht, wie genau ich mir ihren Zorn zugezogen habe. Eigentlich hatten wir ein prima Wochenende. Ausschlafen, gutes Essen, tolles Wetter, spannender Film, keinen Streit. Eben war sie mit ihrem Bruder eine ganze Stunde draussen spielen. Nationen erschaffen, Flüsse aus den Betten heben, Jahreszeiten beeinflussen – was ein Geschwistergötterpaar eben so macht. Das übliche Tagwerk. Aber kaum ist sie drin, werde ich erstmal aus dem Nichts angeschnauzt. Gut, man könnte natürlich argumentieren, dass dies das Vorrecht von wankelmütigen Gottheiten ist und dass ich froh sein kann, wenn gerade kein Staub in der Wohnung liegt, in den ich hätte geworfen werden können. Dem allmächtigen Staubsauger sei Dank. Ich finde es aber trotzdem doof. Nicht dass wir uns missverstehen: Es geht mir nicht darum, dass meine Kinder nicht sauer auf mich sein dürfen. Ich baue oft genug Mist, bin ungeduldig, fahre aus der Haut, höre nicht genug zu, verhalte mich inkonsequent. Ich finde Kinder verdienen und brauchen das Recht, ihre Eltern auf ihre Fehler hinzuweisen und eine Entschuldigung zu verlangen. Vielleicht weil ich aus einer Zeit und einem versunkenen Land (Deutsche Demokratische Republik genannt) stamme, in der das überhaupt nicht üblich war. In meiner Erinnerung haben sich Eltern da grundsätzlich für gar nichts entschuldigt, weil ein unüberwindliches Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen bestand, in der selbst die schlechteste Entscheidung der Erwachsenen scheinbar immer noch reifer, besser und wertvoller zu sein hatte als die beste Entscheidung der Kinder. Bestenfalls waren die nett oder niedlich. Vielleicht sogar im Sinne der Eltern (ganz grosses Lob). Und gerüchteweise hörte man von anderen Kindern, dass deren Eltern ihre Entscheidungen wohl auch schon mal «klug» genannt hätten, aber darauf haben wir nichts gegeben.
Meine Entscheidungen sind jedenfalls mitnichten immer reifer als die meiner Kinder, im Gegenteil: Ich kann mich ohne weitere Schwierigkeiten erstaunlich unreif aufführen. Sinnlos Rechthaben wollen, andere mit meiner Langeweile nerven, Telefonate aufschieben, die ich schon vor Wochen hätte führen sollen (immerhin hat Mutter um einen Rückruf gebeten). Alles gar kein Problem für mich. Und wenn ich in diesen Unfug meine Kinder mit reinziehe und/oder sie darunter zu leiden haben, dann verdienen sie, dass ich sie um Verzeihung bitte. Das bricht mir keinen Zacken aus der Vaterkrone.
Aber dieser Fall liegt anders. Vielleicht bin ich auch da ein Kindskopf. Aber, Mann ey, ich hab nichts gemacht. Wenn ich so angeranzt werde, dann will ich wissen warum und womit ich das verdient habe. Also erdreiste ich mich, dezent nachzuhaken:
«Ähm, was genau habe ich denn gemacht?»
«Tu doch nicht so!» donnert die Rachegöttin. Wann ist die eigentlich so in die Höhe geschossen. Oder fange ich etwa schon an zu schrumpfen. Ich bemerke, dass in mir allmählich ein «Jetzt langt es mir aber!» Gefühl aufkeimt. Wer hat hier ohne mich verfügt, dass ich zum Deppen gemacht werde und wieso? Ich muss mir das weder gefallen lassen, noch hier weiter in den Altarräumen dieser zornesroten Tochtermacht rumhängen.
«Du kannst mich mal gerne haben» sage ich und gehe. Immerhin ist sie alt genug, mir in ihrer Wut nicht nachzulaufen, um mir ins Gesicht zu brüllen, ich solle sie gefälligst in Ruhe lassen. In dieser Disziplin erlangt die Brudergottheit gerade unerreichte Meisterschaft. Hinter mir her trotten und aus vollem Hals «Geh mir nicht immer nach!» schreien. Ich habe also erstmal ein bisschen Ruhe. Eine Stunde später ist der Zorn der Göttin verraucht und ihr Geist richtet sich auf andere Dinge.
«Papa, bringst du mir meine Haarbürste?»
Ich könnte das jetzt auf sich beruhen lassen. Will ich aber nicht. Wie gesagt: Wenn, dann will ich es verdient haben.
«Du verwechselst mich wohl mit jemandem, den du nicht grundlos angeschnauzt und zusammengefaltet hast?!»
Sie startet noch einen kurzen Versuch, sich in Harnisch zu bringen. Aber dann setzen wir uns doch raus in die Abendsonne und reden drüber.
«Manchmal bin ich unglaublich wütend auf dich, Papa, und es fühlt sich so an, als hätte ich einen Grund. Aber dann weiss ich in Wirklichkeit gar keinen.»
Ich könnte jetzt zu einem langen, elterlichen Erklärungssermon ansetzen. Präpubertät und so weiter und warum ich das nicht verdient hätte. Aber ich lasse es. Stattdessen nehme ich sie in den Arm.
«Kann passieren» sage ich. «Wird es wohl in Zukunft auch noch häufiger, weisst du ja. Aber du und ich, wir sind ja wohl immer noch der Plan, oder?»
«Auf jeden Fall» erwidert sie und strahlt. Meine Güte, ist die gewachsen. Und ich bin vielleicht auch gar nicht so sehr geschrumpft, wie ich gedacht hätte.
Gut so.

Bist du einverstanden oder hast du dich über den Blog geärgert? Kommentier den Blogbeitrag in unserem Blog-Forum und teile deine Meinung mit der «wir eltern»-Forums-Community.
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.