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Monatsgespräch
«Das gute Buch und das schlechte Game gibt es nicht»
Von Caterina Melliger
Smartphone, TikTok, KI-Avatare: Kinder wachsen heute mit digitalen Welten auf, die Eltern oft verunsichern. Verbote helfen da wenig, sagt der Medienpsychologe Daniel Süss. Im Gespräch erklärt er, warum Kinder eigene Erfahrungen brauchen, weshalb Vielfalt in der Familie schützt – und was er als TikTok-Chef sofort ändern würde.
Herr Süss, gab es in Ihrer eigenen Kindheit ein Medium oder Gerät, das Ihre Eltern kritisch beäugt haben?
Ja, selbstverständlich. Ich glaube, das hat es immer schon gegeben. Bei mir war es der Fernseher. Ich war begeistert von Western-Serien und habe mir alles angeschaut, was am Fernsehen lief. Schon damals wurde diskutiert, wie viel ist zu viel. Mein Primarlehrer fand beim Elterngespräch, ich erzähle viel zu viel vom Fernsehen in der Schule und man sollte das Gerät bei uns zu Hause abschaffen. Meine Eltern haben auf den Lehrer gehört und den Fernseher tatsächlich weggeschafft. Ich war sehr entsetzt über diese Massnahme.
Der Fernseher wurde bei Süss’ daheim also komplett abgeschafft?
Ja. Doch da ich der am meisten begeisterte Zuschauer war, war ich auch der meist Bestrafte.
Das muss im ersten Moment hart gewesen sein. Was war der lustigste oder absurdeste Medienhype, den Sie in den letzten 20 Jahren beobachtet haben?
Medienhypes oder Begeisterungswellen versuche ich eigentlich nicht als absurd wahrzunehmen. Mich interessiert vielmehr, welche Faszination dahintersteckt. Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung ist die Tamagotchi-Phase, die auch meine Kinder miterlebt haben. Diese kleinen Geräte haben etwas Neues eingeführt: Sie haben vom Nutzer Zuwendung eingefordert. Wenn man sie nicht «gefüttert» oder gepflegt hat, sind sie eingegangen. Damit entstand ein ganz anderes Verhältnis zwischen Nutzer und Medium. Vorher war es immer so, dass der Nutzer Ansprüche hatte, das Medium selbst aber nicht. Bei den Tamagotchis – ähnlich wie heute bei KI-Companions – war es umgekehrt: Das Gerät stellte Anforderungen an den Menschen. Das fand ich spannend, weil es originell war und den Kindern tatsächlich eine Art Pflegeauftrag mitgab.
Das klingt so, als hätte es auch sein Gutes, wenn man ein Faible für gewisse Geräte entwickelt.
Ja, absolut. Es gibt zahlreiche Forschungen – etwa von der Neuropsychologin Daphne Bavelier an der Uni Genf –, die zeigen, dass bestimmte Games kognitive Fähigkeiten fördern können, zum Beispiel räumliche Orientierung. Viele Spiele haben zudem soziale Komponenten: Man entwickelt im Team Taktiken, muss aufeinander eingehen. Games können einem auch neue Welten eröffnen, etwa historische Epochen. Natürlich gibt es auch Risiken. Aber im Kern gilt für jedes Medium: Es gibt nicht einfach das «gute Buch» und das «schlechte Game». Entscheidend sind der Inhalt, die Motivation, der soziale Kontext und die Passung zu den eigenen Fähigkeiten und Interessen.
Wenn Games also Fähigkeiten fördern können – sollte man Kindern dann nicht konsequent das Medium geben, für das sie sich am meisten interessieren?
Natürlich gibt es grundlegende Kulturtechniken, die jedes Kind lernen muss: Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch den Umgang mit digitalen Medien. Ohne diese Kompetenzen kommt man in unserer Gesellschaft nicht weit. Gleichzeitig ist es wichtig, Räume zu schaffen, in denen Kinder ihre Talente entfalten können – ob mit Instrumenten, beim Malen, im Sport oder eben auch in Games. Entscheidend ist, wo ein Kind kreativ werden kann und wie es sich ausdrücken möchte.
Im Kindergarten hat meine Tochter einmal ihrem Gspänli erklärt: «Da du schon lesen kannst, solltest du dir jetzt auch ein Handy zum Geburtstag wünschen.» Ich fand diesen Zusammenhang logisch – erst Lesen, dann Handy.
Ja, und genau das zeigt ein Missverständnis: Viele denken, wenn Kinder viel gamen oder digitale Medien nutzen, brauchen sie das Lesen nicht mehr. Das stimmt ganz und gar nicht. Lesen bleibt eine zentrale Grundkompetenz – gerade auch, weil viele digitale Angebote wie Memes erst durch die Verbindung von Text und Bild ihre Wirkung entfalten. Was wir dagegen in der Schule oft vernachlässigen, ist die Bildsprache: Bilder zu lesen, kritisch zu verstehen. Man denkt, ein Foto zeigt einfach die Realität. Aber durch Perspektive, Bildausschnitt oder Stilmittel entstehen Bedeutungen und Botschaften. Wir arbeiten deshalb an einem Projekt für 10- bis 12-Jährige. Kinder machen eigene Fotos, erzählen damit Geschichten und lassen andere interpretieren. So merken sie, dass Bilder unterschiedlich gelesen werden können – und dass Fotos in Social Media gezielt Wirkungen erzeugen wollen.
Verstehe ich das richtig: Bei dem Projekt geht es ums Bilder lesen, aber auch um das Erkennen von Fake-Bildern?
Genau, alles gehört dazu. Heute ist es weniger wichtig, Tricks zu lernen, wie man von Auge Echtes von Gefälschtem unterscheidet. Wichtiger ist eine kritische Haltung: zu fragen, ob ein Bild KI-generiert sein könnte, was es vermitteln will und was es in mir auslöst.
Das erinnert mich stark an kunsthistorische Methoden – Quellen lesen und interpretieren. Ihr Beispiel zeigt, wie wichtig Bildkompetenz im digitalen Alltag geworden ist.
Genau. Jüngere Kinder erleben den hohen Stellenwert von Fotos zunächst am Verhalten ihrer Eltern – beim ständigen Fotografieren und Teilen von Ferien oder Festen. Sie merken: Bilder sind wichtig. Deshalb sollte man früh ansetzen, noch bevor Kinder im Alter von 13 Jahren selbst Bilder in sozialen Medien teilen. Sie müssen lernen, kritisch und sicher mit Bildern umzugehen – also Bildrechte respektieren, andere fragen, bevor man Fotos veröffentlicht, und fair im Umgang bleiben.
Wenn Kinder also so selbstverständlich mit Bildern und Medien umgehen – wie wirkt sich das auf die Beziehung zu den Eltern aus, die digitale Kompetenzen oft nicht in gleichem Mass beherrschen?
Wir haben lange geglaubt, Erwachsene müssten Kindern in allem voraus sein. Das ist überholt. Lernen ist ein gemeinsamer Prozess. Kinder sind oft schneller bei praktischen Dingen – Einstellungen am Handy, Gaming. Aber Eltern bringen andere Kompetenzen ein: Einordnung, Datenschutz, Werte, die langfristigen Folgen des Handelns. Wichtig ist, dass Eltern offen bleiben, auch wenn sie selbst keine Gamer sind. Entscheidend ist Interesse daran, was das Kind erlebt.
Gibt es bestimmte Lebensphasen, in denen Kinder für Medien besonders empfänglich sind – vielleicht auch für eine problematische Nutzung?
Echte Suchtphänomene treten eher bei älteren Jugendlichen oder jungen Erwachsenen auf. Bei Kindern ist es meist eine Phase starker Begeisterung – sei es für Games oder Serien – die oft von selbst wieder abnimmt. Der Höhepunkt beim intensiven Gamen liegt oft mit 12, 13 Jahren, ähnlich wie beim vielen Lesen. Später verändern Übergänge – Schulwechsel, Ausbildung, erste Beziehungen – das Medienverhalten stark. Peergroups spielen ebenfalls eine grosse Rolle: Medienvorlieben sind oft Ausdruck von Zugehörigkeit.
Die meisten Zwölfjährigen haben schon ein Smartphone. Ab welchem Alter ist es sinnvoll ein Handy zu haben?
Das lässt sich nicht am Alter allein festmachen. Entscheidend sind Reife, Verantwortungsbewusstsein und die Lebensumstände. Hat ein Kind Hobbys, bei denen es oft allein unterwegs ist, kann ein Gerät sinnvoll sein – auch ein einfaches Telefon ohne Internet. Heute bekommen viele Kinder zwischen 9 und 10 Jahren ihr erstes Smartphone. Oft wünschen sich die Eltern, dass das Kind erreichbar ist. Problematischer finde ich heimliche Tracker oder versteckte Überwachung. Besser ist es, dem Kind ein transparentes Gerät zu geben, mit dem es selbstbestimmt kommunizieren kann.
Heute geht vieles nur noch per App – etwa beim Billetkauf. Bargeld nützt oft nichts mehr. Spätestens mit zunehmender Selbstständigkeit brauchen Kinder also ein Handy.
Genau. Natürlich kann man sagen, es sei kein Problem, bestimmte Zugänge zu sperren, die man nicht will. Das heisst aber, Eltern stehen unter hohem Anspruch: Sie müssen entscheiden, was sie freigeben und was nicht. Gleichzeitig ist das Smartphone längst nicht nur ein Unterhaltungs- oder Kommunikationsmedium, sondern auch ein Alltagswerkzeug – Wecker, Billettautomat, Navi und vieles mehr. Wie Sie gesagt haben, es ist auch dazu da, Tickets zu lösen. Wenn man Kinder darauf vorbereiten will, wie sie sich in einer digitalisierten Gesellschaft bewegen, dann müssen sie diese Geräte auch nutzen und eigene Erfahrungen sammeln können.
Gleichzeitig heisst das aber auch: Nicht jedes Gerät gehört ins Kinderzimmer. Was würden Sie sofort verbannen – und was erlauben?
Problematisch sind Geräte, die Kinder überwachen, ohne dass sie es merken – etwa vernetzte Spielzeuge mit Mikrofonen. Das gehört nicht ins Kinderzimmer. Grundsätzlich ist es besser, Mediennutzung zu begleiten, statt zu verbieten. Eltern sollten Vorbilder sein, klare Regeln setzen und Kinder Schritt für Schritt Verantwortung übernehmen lassen.
In diesen digitalen Welten begegnen Kinder auch vielen Rollenbildern. Was lernen sie heute über Geschlechterrollen in den Medien?
Da gibt es Wellenbewegungen: Phasen mit mehr Vielfalt, dann wieder Rückschläge. Aktuell erleben wir mit KI-generierten Figuren oft sehr stereotype Bilder, besonders von Frauen. Junge Mädchen stehen stark unter Druck, was ihr Aussehen betrifft, Jungen eher bei Sportlichkeit, Muskeln, Statussymbolen. Am wichtigsten bleibt die Haltung im nahen Umfeld: Wenn Eltern Vielfalt wertschätzen, schützt das Kinder am stärksten vor einseitigen Rollenbildern.
Apropos Eltern – sind Ihre eigenen Kinder durch Ihren Beruf besonders medienkompetent aufgewachsen?
Einerseits fanden sie es cool, dass ich mich auskannte, andererseits auch nervig, dass ich Risiken kannte. Natürlich wollten sie ihre eigenen Räume haben – wie Jugendliche früher bei Facebook. Mir war wichtig, offen zu bleiben, ihre Begeisterung zu verstehen und im Gespräch zu bleiben. So wussten sie: Wenn mal etwas Unangenehmes passiert, können sie zu mir kommen, ohne dass gleich ein Verbot droht.
Wenn wir den Blick von der Familie zurück auf die Plattformen richten: Angenommen, Sie wären TikTok-Chef – was würden Sie am Algorithmus ändern?
Ich würde verhindern, dass man nur noch Inhalte aus einer Blase sieht. Vielfalt muss erhalten bleiben. Und problematische Inhalte sollten viel konsequenter gefiltert werden – Jugendschutz, Schutz vor Extremismus und Diskriminierung gehören ins Zentrum.
Stichwort KI: Was hat Sie in letzter Zeit am meisten überrascht oder begeistert?
KI-generierte Videos. Wir haben getestet, wie man mit meiner Stimme und meinem Gesicht fremde Texte als Video produzieren kann – auch solche, die nicht meine Meinung wiedergeben. Faszinierend, aber auch beunruhigend. Deepfakes stellen uns vor grosse Herausforderungen: für Bildung, Medienkompetenz, Demokratie.
Und wie gehen Ihre Studierenden damit um – denken sie schon digitaler als Sie?
Klar, sie greifen schneller zu KI-Tools. An Hochschulen müssen wir darum prüfen, wie wir Leistungen bewerten: Eine Seminararbeit reicht nicht mehr allein, man braucht das Gespräch, um echtes Verständnis zu prüfen. Es geht darum, wie Lernen funktioniert – Fragen stellen, Positionen diskutieren, Neugier fördern.
Zum Schluss noch etwas Leichtes: Was war die verrückteste Frage, die Ihnen je gestellt wurde?
In einer Vorlesung an der Kinderuniversität fragte mal ein Kind sehr ernsthaft, ob es eigentlich stimme, dass zu viel Fernsehen zu viereckigen Augen führe. Da musste ich als Wissenschaftler natürlich sagen, dass das nicht wörtlich so stimmt – was die Eltern sicher nicht gefreut hat. Aber ich habe auch erklärt, weshalb es sinnvoll ist, nicht die ganze Freizeit vor Bildschirmen zu verbringen. Darum geht es mir: Eine positive Entwicklung der Kinder zu unterstützen, mit und ohne Medien.