
iStock.com
Erziehung
Erziehen wie die eigenen Eltern
Beim Erziehen der eigenen Kinder orientieren wir uns verdächtig oft an unseren Eltern. Weshalb eigentlich? Immerhin wollten wir doch vieles völlig anders machen.
Neulich, als die Elfjährige jammerte, wie wenig sie im Vergleich zu ihren Freundinnen darf, habe ich es
mal wieder gesagt: «Wenn andere aus dem Fenster springen, springst du dann auch?» Was fand ich diesen Satz als Kind nervig, wenn er aus dem Mund meiner Eltern kam. Und wie sicher war ich, solche Sprüche nie von mir zu geben. Und heute? Kann ich froh sein, wenn es nur bei diesem einen bleibt und mir nicht noch «Wenn du so viele Filme siehst, bekommst du viereckige Augen» rausrutscht, gefolgt von «Als ich so alt war wie du …» oder «Andere wären froh …».
1. Wie entsteht unser Erziehungsstil?
2. Warum macht mein Kind mich so wütend?
3. Lassen sich Eigenarten wegtrainieren?
Wie entsteht unser Erziehungsstil?
Fakt ist: Was einen an Mutter oder Vater einst störte, machen wir auf einmal selbst. Überhaupt verhalten wir uns in vielen Punkten wie unsere Eltern – gerade was die Erziehung der eigenen Kinder angeht. Weshalb ist das so? Schliesslich will jede Generation es immer noch besser machen und gewisse Aspekte der eigenen Erziehung überwinden.
«Wir stammen nun mal von unseren Eltern ab», sagt Philipp Ramming, Erziehungsberater und Psychologe für Kinder- und Jugendpsychologie. «Das hat unweigerlich Einfluss auf unseren Erziehungsstil: Wie wir Dinge verarbeiten, mit Stress umgehen oder was unsere moralischen Werte sind – der Modus unserer Eltern
ist uns einfach am nächsten.» Auch wer es bei seinen eigenen Kindern ganz anders machen will: Früher oder später ertappt sich jeder, dass er wie die eigene Mutter klingt oder die Sprüche des Vaters kopiert. Das gilt insbesondere für herausfordernde Situationen, sagt Ramming: «Geraten wir unter Druck, fallen wir automatisch in den uns bekannten Stil.» Bei Familienberatungen in seiner Praxis in Hinterkappelen (BE) fragt der Psychologe deshalb meist: «Wie war das bei Ihnen früher zu Hause?» Denn Kinder lernen durch Abschauen. «Eigene Erfahrungen und Vorbilder sowie eine Modifikation dessen, was aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen sind, ergeben letztendlich unseren Erziehungsstil. Kindheitserfahrungen spielen immer mit rein.»

Doch wie viel von unseren Eltern steckt tatsächlich in uns? Frank Spinath ist Professor für differenzielle Psychologie und psychologische
Diagnostik an der Universität des Saarlandes und untersucht, inwiefern Gene und Umwelt eine Bedeutung für die Persönlichkeit haben. Dazu befragt er zusammen mit dem Team der «TwinLife»-Studie seit 2014 jährlich mehr als 4000 unterschiedlich alte Zwillingspaare und deren Familien.
Für ihn ist klar: «Selbst im hohen Erwachsenenalter lässt sich die Frage ‹Weshalb ist ein Mensch so, wie er ist?› zu 40 bis 50 Prozent mit genetischen Einflüssen erklären.» Die anderen 50 Prozent seien Umwelteinflüsse, die ausserhalb der Familie liegen.
«Der Erziehungsstil, den wir als Kinder erleben – in Form einer gewissen Strenge oder auch Nachlässigkeit – macht etwas mit uns», sagt der Wissenschaftler. Allerdings wirke er sich nicht auf die klassische Persönlichkeitsstruktur aus: «Mein Kind wird nicht gesellig, nur weil ich jeden Tag Party feiere. Es wird nicht ordentlich, nur weil ich Ordnung halte.»
Trotzdem gibt es grundsätzliche Verhaltenstendenzen, die wir mit unseren Eltern teilen: «Wir sind lebenslang genetisch beeinflusst. Deshalb sollte es niemanden überraschen, dass wir Dinge in ähnlicher Weise machen.» In gewissen Lebensphasen jedoch unterdrücken wir diese Ähnlichkeiten – als Teenager etwa, wenn der Wunsch nach Abgrenzung besonders gross ist. «Muss die Unterdrückung irgendwann nicht mehr sein, wird die Ähnlichkeit wieder grösser», so Spinath, «und man stellt fest: ‹Huch, ich bediene mich ja aus demselben Repertoire wie meine Eltern!›»
Warum macht mein Kind mich so wütend?
Tatsächlich hält uns der Nachwuchs in vielerlei Hinsicht den Spiegel vor: Macht uns etwa der Sohn wütend, reagieren wir meist nicht auf die aktuelle Situation, sondern auf etwas, was uns früher als Kind selbst verletzt hat.
«Kinder triggern Punkte, in denen ich empfindlich bin», sagt Caroline Märki, Leiterin familylab Schweiz und Familienberaterin SGfB. «Diese Verletzlichkeit hat mit meiner Vergangenheit zu tun, oft mit den eigenen Eltern; und es liegt in meiner Verantwortung diese Punkte anzuschauen», so die dreifache Mutter. «Denn diese stehen mir in der Beziehung zu meinem Kind oder meinem Partner im Weg und vergiften das Klima.»
Nicht umsonst schreibt die britische psychotherapeutin und Bestseller-Autorin Philippa Perry («Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen»): «Egal, welches Alter dein Kind hat, es wird dich an die Emotionen erinnern, die du durchgemacht hast, als du in einem ähnlichen Stadium warst.»
Die gute Nachricht lautet: Viele dieser Muster aus der eigenen Kindheit lassen sich korrigieren. Allerdings kann aus Fehlern nur lernen, wer sich bei Konflikten nicht nur auf den Nachwuchs konzentriert, sondern auch auf seine eigene Vergangenheit.
«Dabei geht es nicht darum, als Eltern perfekt zu sein, sondern für Missgeschicke, die unweigerlich passieren, Verantwortung zu übernehmen», findet Märki. «Zum Kind zu sagen: ‹Tut mir leid›, wirkt wie ein Delete und löscht alles.» Vor allem aber helfe es dem Nachwuchs, zu lernen, wie man Fehler eingesteht und sich entschuldigt.
Lassen sich Eigenarten wegtrainieren?
Generell hat die Familie grosse Macht darüber, wie ein Mensch später durchs Leben geht, sagt die Familienberaterin. Sie ist der Grundstein für alles. Hier wird das Selbst gebildet, unsere Integrität: Wer ich bin, was ich mag und was nicht, wo meine Grenzen liegen.
«Diese Integrität des Kindes wird heute oft nicht respektiert. Stattdessen versuchen Eltern, aber auch die Schule, es so zurecht zu meisseln, dass es ins System passt – unauffällig, angepasst.»
In der Beratung erlebt Märki häufig Familien «mit den besten Intentionen, die es wirklich gut machen wollen». Eltern etwa, die ihrem scheuen Kind auf die Sprünge helfen wollen, damit es später bessere Jobchancen hat. «Dabei ist Scheue eine Eigenart, die sich nicht einfach wegtrainieren lässt.»
Der Versuch, den Nachwuchs zu optimieren, signalisiere diesem höchstens: So, wie ich bin, bin ich nicht ok. «Eltern meinen es oft zu gut», sagt die familylab-Leiterin, «sie wollen zu viel für ihr Kind. Und setzen sich gleichzeitig selbst unter Druck, in dem sie sich an unerfüllbaren Massstäben orientieren.»

Wie sehr die Familie beeinflusst, wollen wir allerdings häufig nicht wahrhaben. Nicht umsonst wirkt der Satz: «Du bist wie deine Mutter/dein Vater» in Paarkonflikten als universelles Totschlagargument.
Geäussert als Vorwurf mitten im Streit führt er uns zurück in die Teenagerjahre, in denen wir auf keinen Fall so sein wollten wie unsere Eltern.
Und doch: Mit zeitlicher Distanz entdecken alle früher oder später so manche Ähnlichkeit an sich. Was mit Humor sowie ein wenig Nachsicht und Abfinden mit sich selbst durchaus verkraftbar ist. Zudem lässt sich mit eigenen Kindern plötzlich nachvollziehen, weshalb die Eltern einst solch unnötige Sprüche von sich gaben. Schliesslich sitzen wir heute im selben Boot – und sind ebenso planlos, wenn es gilt, Antworten auf gewisse Fragen zu finden.
Wer Glück hat, gelangt darüber hinaus zu der wohltuenden Erkenntnis: Eigentlich habe ich von meinen Eltern vor allem positive Dinge übernommen! In diesem Sinne: Danke, Mama und Papa! Auch für die Sprüchesammlung.
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.