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Intelligenz
Ist mein Kind hochbegabt?
Manche Eltern möchten ihr Kind schon im Vorschul- oder Kindergartenalter auf eine allfällige Hochbegabung abklären lassen. Ist das sinnvoll?
Eltern halten ihr Kind oft für besonders begabt: Guckte der Junge nicht schon als Säugling besonders helle in die Welt? Setzte das Mädchen nicht früher als andere zum ersten Schritt an? Als Zweijähriger las der Sohn doch schon alle Zahlen und das Töchterchen kritzelte mit Drei die ersten Buchstaben auf ein Blatt Papier.
Zeit also, das Kind bei Mensa – dem Verein für Menschen mit besonders hohem Intelligenzquotienten – anzumelden?
Letizia Gauck ist Leiterin des Zentrums für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie (ZEPP) der Universität Basel und klärt jährlich 15 bis 20 Vorschul- und Kindergartenkinder ab. Zu ihren Schwerpunkten gehören die Identifikation und Förderung besonderer Begabungen.
IQ-Test für Kinder?
Grundsätzlich rät sie Eltern bei einer vermuteten Hochbegabung davon ab, Kinder unter fünf Jahren ohne Not kognitiv testen zu lassen: «Im Alter von drei bis sechs Jahren entwickeln sich alle Entwicklungsbereiche rasant und parallel. » Nicht nur die Intelligenz, auch die Aufmerksamkeit, das Durchhaltevermögen und die Motivation wachsen schnell wie im Zeitraffer – aber nicht zwingend immer gleichzeitig. «Wenn beispielsweise ein Vierjähriges in einer Testung mässig abschneidet, weiss man nicht, weshalb: War das Kind zu wenig motiviert? Ist es sich nicht gewohnt, auf einem Stühlchen zu sitzen und Aufgaben zu lösen?»
Bei kleineren Kindern seien die Ergebnisse einer Abklärung bei weitem nicht stabil genug, um aussagekräftig zu sein. Je älter die Kinder werden, desto besser beherrschen sie die Fähigkeiten, die es für einen IQ-Test braucht. Erst mit etwa acht bis zehn Jahren kristallisiert sich der Intelligenzquotient heraus, der auch im Erwachsenenalter ungefähr der gleiche bleibt.
Anzeichen für Klugheit
Anzeichen für Klugheit gibt es aber schon im Vorschul- und Kindergartenalter. Besonders schlaue Kinder sind überdurchschnittlich stark im logischen und abstrakten Denken. Sie sind konzentrationsfähig, ausdauernd und neugierig. Sie haben einen grossen Wortschatz und sind aufnahmefähig. «Der Hauptindikator für Hochbegabung aber ist schnelles Lernen», erklärt Letizia Gauck. Frühes Laufen hingegen oder wenig Schlaf seien mitnichten typische Anzeichen. «Da wird im Internet mancher Nonsens verbreitet.»
Förderung für Hochbegabte
Ein Dienstagmorgen in der KiTs Dayschool in Bronschhofen (SG). Gleich wird man hier Jungs in weissen Hemden und Mädchen in «Dolce & Gabbana»-Kleidchen antreffen – so die Vermutung vor dem Besuch. Immerhin wirbt die Tagesschule auf ihrer Website mit der Verlockung «durchschnittlich begabte bis hochbegabte Kinder ganzheitlich zu fördern».

Schon beim Betreten der Eingangshalle sackt das Vorurteil in sich zusammen wie ein gepiekster Luftballon. Hier tummeln sich keineswegs nur Elitensprosse aus reichen und bildungsbeflissenen Elternhäusern. Vielmehr krabbeln, spielen, basteln und lernen im ehemaligen Industriebau rund 90 ganz normale Kinder im Alter zwischen drei Monaten und 16 Jahren auf 1600 Quadratmetern.
Das Gebäude ist unterteilt in zahlreiche Sektoren und Räume für das jeweilige Alterssegment. «Ganz normal» sind die Kinder aber nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten wird klar: Viele der Kids sind ziemlich hell im Kopf. Und sie fühlen sich an der Bronschhofer Schule wie die Fische im Wasser.
Im Zimmer für die Basisstufe etwa springt einem das Gehirnfutter förmlich entgegen: An den Wänden hängen Weltkarten und Buchstabenschlösser, auf Regalen stehen Themenordner. Kasperlifiguren warten darauf, in kreativen Geschichten aufzutreten, Musikinstrumente wollen bespielt, Kristalle gezüchtet werden. Ein Kinderparadies für die Gruppe der elf Kinder zwischen vier und sieben Jahren, die jetzt auf ihren Stühlchen im Kreis sitzen und Post aus einem grünen Kartonbriefkasten ziehen. Nicht alle, aber die meisten können lesen, ein 6-Jähriger rechnet gar im Zahlenraum von einer Million. Viele der Kinder denken schneller um die Ecke als ein Hase Haken schlagen kann.
Besondere Bedürfnisse
Ein guter Teil der Jungen und Mädchen besucht die KiTs Dayschool deshalb, weil sie im öffentlichen Kindergarten oder in der öffentlichen Schule nicht glücklich waren. Wenn sich bei ihnen nach Abklärungsgesprächen und einem allfälligen Test herausstellt, dass der Grund für die Melancholie oder das aggressive Verhalten eine schulische Unterforderung ist, entscheiden sich manche Eltern, es mit einer Privatschule für Kinder mit «besonderen Bedürfnissen» zu versuchen.
«Je nach Jahrgang ist mindestens ein Viertel bis zur Hälfte unserer Schüler kognitiv sehr begabt», sagt Gabriela Fieseler. Die Schulleiterin sitzt in der mit Brockenmöbeln ausgestatteten Schulkantine und rührt im Café. Eigentlich ist sie der Meinung, dass Begabungsabklärungen ohne Anlass kaum sinnvoll sind. Gabriela Fieseler verlangt deshalb auch keine Tests für den Eintritt. Aber wegen der Probleme zu Hause oder in der Schule haben manche Kinder doch bereits eine Abklärungs- Odyssee hinter sich. Andere finden den Weg über Empfehlungen – unter anderem von Stiftungen und Vereinen für Hochbegabte – den Weg nach Bronschhofen. Und einige Eltern schicken ihre Kinder hierhin, weil beide berufstätig sind und sie ihr Kind in einer Tagesschule gut versorgt wissen wollen, oder sie schätzen den zweisprachigen Unterricht.
Den Vorwurf, angesichts der monatlich 2000 Franken Schulgeld für eine vollumfängliche Wochenbetreuung vielleicht doch ein wenig elitär zu sein, lässt Gabriela Fieseler – teilweise gelten. «Ja, es ist elitär, wenn Eltern es nicht vermögen, ihr Kind mit besonderem Bedürfnis in eine Schule wie unsere zu schicken. Aber es ist nicht unfair, wenn Eltern versuchen, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu befriedigen.» Wenn immer möglich, können dank Sponsoren auch hochtalentierte Kinder aus weniger begüterten Elternhäusern das anregende Schulumfeld besuchen.
Heterogene Volksschule
Die allermeisten der kleinen Genies aber müssen sich mit dem öffentlichen Kindergarten begnügen. Im Zyklus 1 der Volksschule, der zwei Kindergartenjahre und die 1. und 2. Primarschulklasse umfasst, gibt es zwar keine speziellen Förderprogramme, aber auch die öffentliche Schule orientiert sich an den Entwicklungsschritten der Kinder und stellt das Spiel- und Lernangebot so zusammen, dass jedes Kind herausgefordert wird. «Alle Kinder werden dort abgeholt, wo sie in ihrer Entwicklung stehen», sagt Ruth Fritschi, Geschäftsleitungsmitglied des Schweizerischen Lehrerverbands und Präsidentin der Stufenkommission Zyklus 1. Zudem würden die angehenden Lehrpersonen in der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen auf die Heterogenität in einer Klasse vorbereitet.
Allerdings ist in der öffentlichen Schule die Palette von Auffälligkeiten breit: Kinder mit Lernschwierigkeiten, ADHS, Asperger oder eben Schnelldenker sitzen nebeneinander. Fast überall aber werden nur leistungsschwache Schüler gefördert, besonders Begabte haben das Nachsehen. Fachleute fordern deshalb seit langem mehr Unterstützung: Indem sich etwa Kindergärtnerinnen und Lehrer vertieft mit Begabtenförderung auseinandersetzen und geschult werden, um kognitiv besonders talentierte Kinder überhaupt als solche zu erkennen. Wenn weder die Eltern noch die Kindergärtnerin merken, dass ein Kind sehr begabt ist, hat es – genau wie ein kognitiv schwaches Kind – Pech gehabt. Was aber, wenn Eltern doch ziemlich sicher sind, einen kleinen Spitzenkönner aufzuziehen? Sollen sie sich dann doch um einen Platz bei Mensa bemühen?
Nur 2 Prozent sind hochbegabt
Nein. Zumal ein Eintritts-Test beim exklusiven Club frühestens ab 14 Jahren möglich ist. Laut Studien überschätzen sowieso die meisten Eltern das intellektuelle Potenzial ihrer Kinder – faktisch erreichen oder übertreffen nur zwei Prozent der Menschen das Limit für Hochbegabung. Dass das eigene Kind auf einen Thron gehoben, als hübscher und gescheiter als andere eingestuft wird, hat wohl archaische und biologische Gründe: Den Nachwuchs durch die rosa Brille zu sehen, erhöht letztendlich dessen Überlebenschancen. Statt gleich an Mensa zu denken ist es womöglich sowieso klüger, den schlauen Nachwuchs ganz ohne IQ-Stempel durch die Kindheit zu begleiten. Zumal die Enttäuschung mitgeschleppt werden müsste, wenn das Ergebnis dann doch deutlich unter den erwarteten 130 IQ-Punkten liegt.
Starke Förderung kontraproduktiv?
Trifft ein sehr begabtes Kind auf hypermotivierte Eltern, erwächst daraus nicht zwingend der nächste Roger Federer oder eine Geigerin von Welt. Letizia Gauck beobachtet, dass überforcierte Kinder eher dicht machen. «Wenn ein Vorschulkind nach Zahlen oder Buchstaben fragt, ist es wichtig, darauf zu antworten. Schulstoff sollten Eltern aber nicht aktiv vorwegnehmen – das Kind könnte sich in der Schule langweilen.»
Die Psychologin möchte die Förderbemühungen aber keineswegs schlechtreden: «Wenn Eltern die Erwartungen an ihr Kind ein bisschen höher setzen als das, was es bereits geschafft hat, und diese im Bereich liegen, was das Kind mit Anstrengung noch schaffen kann, ist das entwicklungsförderlich. » Sind die Erwartungen zu tief, verinnerlicht das Kind das Gefühl, dass man ihm nichts zutraut.
Letizia Gauck rät verunsicherten Eltern vor allem eines: ihr Kind zu beobachten: «Ist es im Alltag glücklich und lacht viel, braucht es nicht schon im Vorschulalter eine Abklärung.»
Gehirnfutter: Das Kind in seiner Entwicklung unterstützen
Ob kleiner Einstein oder fröhlicher Durchschnitt - mit diesen Aktivitäten und Erfahrungsmöglichkeiten unterstützen Eltern ihr Kind in seiner Entwicklung:
♦ Geschichten vorlesen
♦ Reime und Lieder üben oder selber erfinden
♦ Kindertheater besuchen
♦ Musik-, Rhythmusinstrumente zum Ausprobieren zur Verfügung stellen
♦ Gesellschaftsspiele spielen
♦ Witze erfinden
♦ Interesse an Zahlen und Buchstaben unterstützen, aber nicht erzwingen
♦ Kinderfragen gemeinsam googeln
♦ Tiere beobachten
♦ Für ein Tier sorgen
♦ Pflanzen eintopfen und pflegen
♦ Karton, Papier, Farben, Schere, Kleber: Werk- und Bastelmaterial zur freien Verfügung stellen
♦ Puzzeln
♦ Technische Geräte zerlegen
♦ Velo-, Ski-, Skateboard fahren