
Anne Gabriel-Jürgens
Ernährung
Kampfzone Esstisch: Wie alle satt und zufrieden werden
Zucchetti: bäh! Gurken: bäh! Brokkoli, Fenchel, Sellerie: bäh!! So tönte es an unserem Esstisch. Tag für Tag. Unser Sohn war als Kleinkind ein Picky Eater – oder höflicher ausgedrückt: ein etwas wählerischer Esser. Pommes und Wienerli: Top! Gemüse: Flop! Und weil die Sorge von uns Eltern proportional zu seiner Verweigerung von Vitaminen stieg, erlaubten wir uns, unseren kleinen Schnäderfrass zu übertölpeln. In der halben Stunde Bildschirmzeit vor dem Abendessen knabberte unser Sohn ganze Schälchen mit Karotten-, Gurken- und Kohlrabistängeln leer, dank Anreicherung mit ein bisschen Mayonnaise. Hunger und Ablenkung untergruben seine Überzeugung, dass Vegetabiles grundsätzlich grusig sei.
Zu Reibereien am Tisch führen aber nicht bloss die Speisen auf dem Teller. Eine viel grössere Rolle spielt die Prägung der Eltern, ihre Erwartungen und kulturelle Trends. Müttern und Vätern bleibt – wie so oft in der Erziehung – nicht erspart, mitgebrachte Werte und Normen zu erkennen und stets neu miteinander auszuhandeln. Punkt für Punkt zu besprechen: Müssen die Hände vor dem Essen gewaschen werden? Dürfen die Kinder selber schöpfen? Müssen sie den Teller leer essen? Wann dürfen die Kinder vom Tisch? In wessen Familie hinsichtlich Essen immer alles reibungslos funktioniert, der werfe das erste Rüebli.
Esskultur hat oft wenig mit Geschmacksvorlieben, aber viel mit Psychologie zu tun. Es geht um Macht und Ohnmacht. Zwischen den Eltern, zwischen den Kindern, zwischen Eltern und Kindern. Es beginnt schon beim Stillen: Will es nicht richtig klappen, fühlt sich die Mutter unsicher, schuldig, abgelehnt. Genauso der Papa, wenn das Baby den Schoppen verweigert. Später erzeugt der erste Brei, der in ausgespuckten Sudeleien an Stühlen und Wänden kleben bleibt, für Wut und Verzweiflung – allerseits. Das Kind muss doch essen – seufzten schon unsere Grossmütter. Nur will das Kind gerne selbst bestimmen. Denn ein Säugling oder Kleinkind begegnet tausendfach neuen Eindrücken, auch kulinarischen. Und das allermeiste wird zuerst einmal abgelehnt. Aus Sicherheitsgründen, wohlgemerkt.



Religiöse Tendenzen
In ihrem Bestseller «Der Eltern-Kompass» hebt die Wissenschaftsjournalistin Nicola Schmidt eine Studie hervor, die den Widerwillen der Kleinen angesichts von Grünfutter untersucht: Die Abneigung gegen Gemüse im zweiten Lebensjahr ist lebenswichtig. Denn die in diesem Alter entwickelte Neophobie – griechisch: Neue Furcht – liess bei unseren Vorfahren nur jene überleben, die vorsichtig genug waren, keine unbekannten und womöglich giftigen Pflanzen zu vertilgen.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf können Eltern die Ausspuckattacken ihrer Kleinen im besten Fall etwas gelassener nehmen.
Mitunter nimmt die Debatte rund um die Kulinarik fast religiöse Züge an. Die gesellschaftlich und medial diskutierten Themen landen dann zwangsläufig am Familientisch. Zucker: ja oder nein? Fleisch: ja oder nein? Vegan: ja oder nein? Statt um die Deutungshoheit über Richtig und Falsch zu streiten, ist es ratsam, als Familie immer wieder einen Mittelweg zu finden. Denn: Zu viel Knatsch am Tisch verdirbt den Appetit.
Gesundes Essen ist aber längst nicht mehr nur Privatsache, sondern auch Staatsaufgabe: So will das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) mit der Schweizer Ernährungsstrategie die Grundlage schaffen, um der Bevölkerung die Wahl gesunder Lebensmittel zu erleichtern. Dazu gehören die allseits bekannte Ernährungspyramide oder der Nutri-Score – die freiwillige Farb-/Buchstaben-Kennzeichnung von Lebensmitteln durch die Produzenten.
So sinnvoll und notwendig Ernährungsbildung ist – so gelassen sollten sich Eltern davon leiten lassen. Denn den kleinen Gemüseverweigerern fünfmal am Tag Grünfutter anzudrehen – wie es die Website «5 am Tag» (5amtag.ch) nahelegt – ist ein Wettlauf gegen die kindliche Intuition. Da können Eltern nur verlieren. Man nehme die Richtlinien des BLV also als das, was sie sind: eine Empfehlung. Und mische am Familientisch eine gute Portion Lockerheit darunter.
Uraltes Ritual
In einem Punkt allerdings sind sich die Fachleute durch alle Ratgeber hindurch einig: Gemeinsame Mahlzeiten sind ein Kulturgut, das Menschen zusammenschweisst. Schon die Höhlenbewohner sassen ums Feuer und verzehrten das Jagd- und Sammelgut. Wer ausgeschlossen wurde, starb. Das uralte Ritual des gemeinschaftlichen Speisens hält sich in manchen Aspekten bis heute. Wir sollten es nicht schleichend der Individualisierung überlassen. Möge es am Tisch mitunter wie auf einem Schlachtfeld aussehen oder platzen zwischendurch verbale Tischbomben – das Familienessen bedeutet eben auch emotionalen Zusammenhalt, Bindung und Beziehung.
Letztlich sind es die zu hohen Erwartungen und überladenen Ansprüche, die zu Konflikten und Stress führen. Wie meist in der Erziehung, haben alle mehr davon, wenn auch am Familientisch weder ein Zwangsregime herrscht noch Machtkämpfe ausgetragen werden. Ist leichter geschrieben als getan, das wissen wir. Darum haben wir Ernährungsberaterinnen, Kinderärzte und Psychologinnen die drängendsten Fragen zum Thema Familientisch gestellt.