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Kinderfreundschaften
Warum gute Freunde so wichtig sind
Weshalb Kinderfreundschaften so wichtig sind, wann Eltern eingreifen dürfen und warum wir unser Verständnis von Freundschaft nicht auf den Nachwuchs projizieren sollten.







«Du bist nicht mehr mein Freund», ruft der Vierjährige wütend dem gleichaltrigen Nachbarsjungen zu, als die beiden sich nicht einigen können, wer das Wettrennen mit dem Velo gewonnen hat. «Laura ist jetzt meine Freundin», verkündet die Sechsjährige, nachdem sie wenige Minuten zusammen mit dem eben kennengelernten Mädchen auf dem Klettergerüst rumgeturnt ist. Vater und Mutter schmunzeln: Jaja, der Sohn wird sich schon wieder einkriegen. Ist doch in Wahrheit sein bester Freund, der Nachbarsjunge. Und die Tochter muss eben noch viel über Freundschaften lernen. So schnell geht das nun auch wieder nicht mit dem Anfreunden.
«Hat mein Kind Freunde?», fragen sich viele Eltern besorgt. «Genug?» Und vor allem: «Die richtigen?» Freundschaften haben bei uns einen hohen Stellenwert. Wir sind stolz, wenn die Tochter jahrelang eine feste beste Freundin hat. Und machen uns umgekehrt Gedanken, wenn der Sohn sich so gar nicht mit einem Gspänli verabreden will.
Tatsächlich beschwören auch Psychologen den Wert von Kinderfreundschaften. «Kinder brauchen den Austausch mit Gleichaltrigen, die kognitiv und motorisch in einer ähnlichen Situation sind», sagt Moritz Daum, Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich. Mit älteren oder jüngeren Geschwistern sei das Verhältnis immer ungleichgewichtig, mit Eltern erst recht. «In gleichaltrigen Freundschaften lernen sie aufgrund der grösseren Ähnlichkeit einfacher, andere Perspektiven einzunehmen, sich in andere hineinzudenken und Mitgefühl zu haben.» Auch in Sachen Konfliktbewältigung lernen sich Kinder dank Freundschaften zu behaupten. Ausserdem bekommen sie Rückmeldung, merken, dass sie gemocht werden. Deshalb seien Freundschaften für alle Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung sehr wichtig, sagt die Hamburger Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Marion Pothmann. «Je älter Kinder werden, umso mehr lernen sie voneinander und gucken sich gegenseitig ab.»
Schon Zwei- oder Dreijährige bezeichnen Gleichaltrige als Freunde. Für sie ist ein Freund, wer Zeit mit ihnen verbringt. Gemeinsame Interessen sind in diesem Alter noch nicht von Bedeutung. Umso wichtiger findet es die Psychologin Pothmann, dass Mutter und Vater diese Freunde auch so bezeichnen und wertschätzen. «Eltern sollten bloss nicht ihre eigenen Freundschaftsbegriffe auf den Nachwuchs übertragen und etwa sagen ‹das ist doch gar kein richtiger Freund!›»
Erst im Vorschulalter wählen Kinder überlegt aus, formulieren explizit «du bist mein Freund» oder eben «du bist nicht mein Freund». Der Nachwuchs ist sich nun bewusst: Freunde kann ich mir selbst aussuchen, hier bin ich nicht von den Eltern abhängig. Je älter Kinder werden, umso mehr Wert legen sie auf Gemeinsamkeiten, auf Interessen und persönliche Eigenschaften, die sie mit anderen verbinden. Zunehmend teilen sie auch Vertrautes miteinander.
Nach welchen Kriterien der Nachwuchs seine Freunde auswählt, ist für Eltern nicht immer nachvollziehbar. Marion Pothmann, die ein Buch geschrieben hat mit dem Titel «Kinder brauchen Freunde», bekommt von besorgten Eltern oft zu hören: «Ich verstehe gar nicht, was mein Kind an diesem Jungen findet – das Kind aus dem Nachbarhaus würde doch viel besser passen.» Manchmal sucht der Nachwuchs in potenziellen Freunden Eigenschaften, über die er selbst nicht verfügt. «Oft reizt nicht, wer sich anbietet als Freund, sondern wer erobert werden kann», so die Psychotherapeutin. Womöglich hat der neue Freund einfach nur tolle Spielsachen. Vielleicht ist er auch der Anführer der Gruppe und deshalb interessant. Oder die beiden sind sich schlicht sympathisch. Weil die Wahl der Freunde so individuell ist, sollten Eltern sich zunächst möglichst heraushalten, findet Marion Pothmann. «Auf Dauer regulieren sich Kinder ganz gut.»
Was aber, wenn der Nachwuchs schüchtern ist? Dürfen Eltern nachhelfen und Spielgefährten nach Hause einladen? Ja, sagt Moritz Daum, aber Eltern sollten dabei sehr einfühlsam vorgehen. «Das Bedürfnis, sich zu verabreden, ist nicht bei jedem gleich ausgeprägt. Auf keinen Fall sollte man sein Kind dazu zwingen.» Viel wichtiger findet er, die Kreativität des Nachwuchses zu fördern und anzuleiten, wie man mit anderen spielt. Dies erhöhe auf indirektem Weg die Wahrscheinlichkeit von Freundschaften. «Denn Kinder, die viele Spielideen haben, sind beliebt bei anderen.» Marion Pothmann wiederum findet es wichtig, dass auch Eltern ein gutes soziales Netz pflegen und dies vorleben. «Kinder mit sozialen Schwierigkeiten haben nämlich oft Eltern mit ebenfalls wenig Kontakten.»
Und wenn man den Freund des Sohnes partout nicht mag? Dann sollten sich Eltern zunächst in Zurückhaltung üben und überlegen: «Gefährdet diese Freundschaft mein Kind? Bringt sie es in Schieflage?», sagt Daum. Tatsächlich sei dies nur selten der Fall und Eingreifen dann in Ordnung; ansonsten aber: sich entspannen und aushalten. Auch Pothmann würde zunächst abwarten: «Erst wenn mein Kind über mehrere Monate unterlegen ist, immer wieder sitzen gelassen wird und seine Fröhlichkeit verliert, würde ich eingreifen. Hier ist es wichtig, Kinder zu unterstützen und sie zu stärken, sich nicht von Freunden abhängig zu machen, die einem nicht guttun.»
Machen sich Eltern heute zu viele Gedanken über die Freunde ihrer Kinder? Früher, da ging man raus, und irgendwer fand sich zum Spielen, ganz ohne Verabredung. Heute hingegen arbeiten meist beide Eltern, die Kinder sind in der Betreuung. Treffen mit Gleichaltrigen werden per WhatsApp vereinbart – wegen Terminstress gerne Wochen im Voraus. Interessiert, anteilnehmend, aber auch übergriffig prüfen Erwachsene, mit wem sich der Nachwuchs anfreunden soll. «Früher sind Eltern vielleicht gelassener mit dem Thema umgegangen», meint Daum. «Heute jedoch ist auch die Gefahr der Vereinsamung grösser, gerade durch digitale Medien.» Reale Freundschaften, persönlicher Kontakt, das direkte Miteinander sind deshalb noch wichtiger, als sie es ohnehin schon immer waren. So zeigt eine amerikanische Studie: Kinder, die sich sehr viel in der digitalen Welt aufhalten, sind eher einsam und depressiv. Der direkte Kontakt mit Freunden hingegen wirkt da zum Teil wie ein Schutzfaktor.
«Insgesamt greifen Eltern heute stark in das Leben ihrer Kinder ein», findet Daum. Beim Thema Schulerfolg, frühe Förderung, aber auch bei Freunden. Mutter und Vater müssten dabei jedoch überlegen: Was ist mein Kind für ein Kind? Reicht ihm ein Freund? Braucht es auch Zeit für sich und ist damit ganz zufrieden? «Eltern sollten zugestehen, dass Freunde finden zur Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes gehört», sagt Daum. «So haben Tochter oder Sohn bei der Freundeauswahl vielleicht ganz andere Kriterien.» Verabrede sich ein Kind zwei Wochen lang nicht, gelte deshalb die Devise: Gelassen bleiben, nicht gleich eingreifen!
«Eltern glauben erstaunlich oft, dass ihr Kind keine Freunde hat und deshalb nicht glücklich werden könne», so Pothmann. Frage man hingegen das Kind, sage es meist: «Natürlich habe ich Freunde, so 10 bis 20.» «In den allermeisten Fällen besteht kein Grund zur Sorge», sagt die Hamburger Psychotherapeutin. «Nur sehr wenige Kinder sind wirklich einsam.»
Zieht die beste Freundin weg oder verändert der Schuleintritt Kinderfreundschaften, sind es dann auch oft eher die Eltern, die den Freundschaften ihrer Sprösslinge hinterhertrauern und sich Gedanken machen – während Tochter oder Sohn sich häufig erstaunlich schnell arrangieren.
«Kinderfreundschaften sind für einzelne Entwicklungsphasen äusserst wichtig», sagt Marion Pothmann. «Sind diese jedoch abgeschlossen, können auch die Freundschaftsbeziehungen unwichtig werden.» In der Pubertät etwa legten gerade Mädchen viel Wert auf einen besonders vertrauensvollen Austausch und pflegten sehr enge Freundschaften, erklärt der Entwicklungspsychologe Daum. Wird das Vertrauen allerdings missbraucht, wird auch die Freundschaft schnell beendet – was in dieser Lebensphase sehr viel dramatischer erlebt werde als in anderen. «Hier haben wir das Paradox: Sehr intensive Freundschaften einerseits, die andererseits sich aber auch schnell verändern können.» Einmal mehr gelte deshalb: Erwachsene sollten ihre Begriffe von Freundschaft nie auf Kinder projizieren.
Was bleibt, ist die nüchterne Erkenntnis: Freundschaft ist vor allem eine Frage des Temperaments und Charaktersache, sie lässt sich nicht erzwingen. Anders als im Alter sind Heranwachsende jedoch ständig mit grossen Gruppen und neuen Gesichtern konfrontiert. Verkrampft suchen ist deshalb völlig unnötig, meist geht das ganz von allein.
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.