Franz Hohler
«Kinder interessieren sich für Katastrophen»

Marvin Zilm
In Franz Hohlers Arbeitszimmer stapeln sich die Bücher bis zur Decke. Zeitschriften und Zeitungen liegen zuhauf am Boden. Auf deren Frontseiten: der Krieg in der afrikanischen Welt und das Atomdesaster. Alles andere als gefeit vor Katastrophen sind auch die Figuren in Franz Hohlers Kindergeschichten. So erstaunt es nicht, dass dieses Interview rein thematisch einen katastrophalen Anfang nimmt.
wir eltern: Herr Hohler, wie viel Tod und Schrecken darf Kindern zugemutet werden?
Franz Hohler: Kinder sind ausserordentlich interessiert an Katastrophen. Sie wissen erstaunlich schnell Bescheid über Unglücke. Ich habe das Gefühl, etwas in ihnen freut sich, wenn es irgendwo brennt, wenn die Feuerwehr kommt.
Kinder sind also kleine Sadisten. Warum?
Es mag damit zusammenhängen, dass sie selber so viele Fehler machen. Dauernd sagt man ihnen: Das geht nicht! Das ist falsch! Du darfst keine Kieselsteine die Treppe runter werfen. Vielleicht freuen sich Kinder deshalb heimlich, wenn bei Erwachsenen genau so viel schief läuft wie bei ihnen. Gleichzeitig sind Kinder ausgeprägte Harmoniker. Freundschaft ist ein ganz grosses Thema für sie. Wenn ich mit Schulklassen Geschichten mache, dann lautet ihr letzter Satz ganz oft: «… und sie blieben Freunde ihr Leben lang». Die Sehnsucht nach Freundschaft und Harmonie ist ebenso gross wie das Interesse an Katastrophen.
Was heisst das für Sie als Autor?
Kinder vertragen mehr, als wir ihnen zutrauen. Im Allgemeinen versuchen wir sie zu stark vor Traurigem und Tragischem zu schützen. Anderseits graust mir manchmal selber vor einigen meiner Geschichten und ich frage mich: Wie bin ich da bloss drauf gekommen?
Würden Sie besagte Geschichten im Nachhinein gern ändern?
Nein! Auch das wirkliche Leben ist manchmal brutal. Wenn jemand oder etwas explodiert, gibt es auf alle Fälle eine Vorgeschichte. Eine Explosion ist immer die Folge eines Überdrucks und eine Druckentlastung. Das ist Physik. Und damit wären wir wieder beim AKW-Unfall von Fukushima. Eine Druckentlastung kann die totale Katastrophe sein.
Eine Kindergeschichte braucht also kein Happy End?
Nein. Es ist zwar schön, wenn das Gute siegt und ich möchte nicht nur Geschichten schreiben, in denen das Gute untergeht (lacht). Aber in einer Geschichtensammlung muss das Unberechenbare, müssen die Schatten der Menschen auftauchen. Märchen und Sagen etwa sind voll von unberechenbaren Mächten, die von einer anderen Welt in die wirkliche Welt einfallen und den Menschen ihre Grenze aufzeigen. Die Welt ist ohne das Böse und ohne Katastrophen nicht vollständig.
Franz Hohler
Geboren am 1. März 1943 und aufgewachsen in Olten, widmete sich Franz Hohler nach fünf Semestern Studium in Germanistik und Romanistik ganz der Kunst. Als Kabarettist und Schriftsteller spricht er die Menschen wie kein anderer über Generationen hinweg an. Hohler hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit seiner Frau, einer Psychoanalytikerin, in Zürich. Sein Buch, die Kinderversesammlung «Es war einmal ein Igel», ist 2011 im Hanser-Verlag erschienen.
Auch wenn man es noch so gerne hätte …
Ja. Durch Katastrophen und Unglück lernen die Kinder wie die Welt funktioniert. Sie begreifen die Grenzen des Machbaren.
Weshalb sind Kinder eigentlich so grosse Fans von Geschichten?
Wenn ihnen jemand eine Geschichte erzählt, haben sie die Person einen Moment lang ganz für sich alleine. So gesehen hat eine Gutenachtgeschichte einen ganz hohen emotionalen Wert, egal, wovon sie handelt.
Welche Bedeutung hat die Phantasie?
Die Phantasie ist ein Organ, das ein bisschen in Verruf geraten ist; man hat das Gefühl, es nütze nicht so viel, und so verliert die Phantasie im Verlauf der Erziehung an Bedeutung. Das Kind lernt rechnen und lesen, aber spinnen lernt es nicht. Phantasie kann helfen, die normale Welt zu erkennen.
Viele Kinder wachsen heute ohne Bücher auf. Entsteht dadurch ein Defizit?
Ich persönlich empfinde es als Mangel. Doch die Phantasie findet immer Wege, sich zu betätigen. Wo keine Bücher sind, werden andere Formen von Kommunikation wichtiger. Schliesslich ist die Menschheit sehr lange ohne Bücher ausgekommen. Heute übernimmt oft das Fernsehen die Rolle der Bücher. Oder die Filme, die aufs i-Phone geladen werden. Ich finde es schade, wenn Kinder nicht lesen. Die Welt geht deswegen aber nicht unter.
Haben Ihre Kinder gelesen?
Von unseren Söhnen war einer ein grosser Leser, der andere hat gar nicht gelesen.
Franz Hohler
Und Sie haben das einfach geschluckt?
Ich hätte natürlich lieber gehabt, er hätte gelesen. Denn ich halte Lesen für einen wirklich kreativen Vorgang. Meine Frau und ich sind beide Leser und es gibt bei uns unglaublich viele Bücher. Als Kind kann man auf diese Situation so reagieren, dass man das, was man zu Hause vorfindet, ablehnt – als Abgrenzung und Zeichen für den eigenen Weg. Die andere Art zu reagieren ist, dass man sagt: Oh, super, da hat es Bücher; wovon handeln die?
Sie sagen, lesen sei kreativ. Ist es nicht eher ein Konsumieren?
Nein! Man muss sich die Welt, die zwischen den Buchdeckeln im Verborgenen liegt, selbst erschaffen, indem man sie sich vorstellt.
Welches war als Bub Ihr Lieblingsbuch?
Das grosse Wilhelm Busch-Album, eine Art Comic-Vorläufer. Mich inspirierte die Magie der Verse, die Wortspiele und wie Busch Wort und Bild verbunden hat. Meine erste Geschichte, die ich als 8-Jähriger geschrieben habe, war so eine Versgeschichte: «Auf seinem Pferd Herr Fadian / sich sieht die schöne Landschaft an.» Worauf das Pferd von einer Wespe ins Füdli gestochen wurde, durchbrannte und mit Herrn Fadian in eine Schlucht fiel. Herr Fadians Schädel zerschmetterte an einem spitzen Stein, dem Ross riss es den Hals auf, Blut floss in Strömen. Am Schluss hiess es: «Und die Moral von der Geschicht / lass dich von Wespen stechen nicht.» Ich hatte schon damals grosses Vergnügen daran, eine grausige Geschichte zu erzählen.
Heute würde man Sie der blutrünstigen Fantasien wegen wohl dem Schulpsychologen vorstellen.
Ich soll ein relativ friedliches Kind gewesen sein. In die Poesiealben der Mädchen habe ich aber immer Bilder von sterbenden Kriegern gezeichnet, die sich Pfeile aus der Brust rissen.
Mochten Sie auch lustige Bücher?
Sicher. Ich konnte viele Globi-Verse auswendig. Und ich liebte Erich Kästner, sein Humor, seine Phantasie. «Der 35. Mai» war mein absolutes Lieblingsbuch im Alter von elf Jahren. Phantasie ist eben auch ein Stück Souveränität. Man kann sich vorstellen, was man will. Im Kopf ist alles machbar. Das ist auch eine Übung in Freiheit.
Oder eine Flucht aus dem realen Leben.
Flucht tönt sehr defensiv, riecht nach Defizit. Dass man aus dem realen Leben in eine phantastische Welt reisen kann, die einem Spass macht, ist eine Qualität.

Haben Sie Ihre Kindergeschichten vor der Veröffentlichung an Ihren Kindern getestet?
«Tschipo», mein erster Kinderroman, war ursprünglich eine Geschichte, die ich meinen Kindern während der Ferien auf einer griechischen Insel erzählen wollte. Mein älterer Sohn meinte jedoch, ich müsse die Geschichte zuerst aufschreiben und erst dann erzählen, nur so sei es eine richtige Geschichte. Das war ein klarer Auftrag, ein Buch zu schreiben und ich war dankbar für diesen Kick.
Hatten die Kinder ein Mitspracherecht?
Soweit ging ich nicht. Aber ich habe schon darauf geachtet, was ihnen gefiel.
Ihre Söhne sind heute 40 und 37 Jahre alt. Hat man sich damals auch schon so viele Gedanken zur Frühförderung gemacht wie heute?
Selbstverständlich. Das war ein Hauptthema.
Wie haben Sie Ihre Söhne gefördert?
Wichtig war mir alles Kreative. Ich kann mich erinnern, wie wir aus alltäglichem Material eine Krippe gebastelt haben: Die Maria war eine Shampoo-Flasche, der Josef ein Holzklotz, das Jesuskind ein Tannzapfen, der in einem Konfideckel lag.
Welche Werte wollten Sie den eigenen Kindern vermitteln?
Mitgefühl. Mit allem was lebt.
Ist es Ihnen gelungen?
Ich finde, ich habe zwei sehr menschfreundliche und warmherzige Söhne.
War es schwierig, Vater zu sein?
Ich habe das Vatersein nie allzu fest hinterfragt. Natürlich gab es schwierige Momente, in denen man als Eltern saumässig unsicher ist. Schliesslich gab es auch früher keine Lehre für Eltern.
Waren Sie ein strenger oder ein nachgiebiger Vater?
Ich habe probiert, mit sanften Methoden zum Ziel zu kommen (lacht). Ich weiss noch, wie ich einmal eine Horde streitender Zehnjähriger mit lauten Worten aus unserem Garten geschickt habe und mein Sohn danach zu mir sagte: «Jetzt warst du wie ein richtiger Vater!» (lacht schallend). Aha, dachte ich, so ist ein richtiger Vater, so muss man das machen, vielleicht trete ich etwas zu wenig autoritär in Erscheinung.
Franz Hohler
Sie wurden also autoritärer?
Grenzen setzen ist wichtig in der Erziehung. Man braucht die Grenzen zum eigenen Schutz und hofft, sie seien auch zum Schutz der Kinder. Immer wieder fragt man sich, welche Signale vom Kind kommen, wie weit man ihnen entgegenkommen will, was durchzusetzen richtig ist. Das sind keine leichten Fragen.
Woran haben Sie sich orientiert?
Immer an beidem, an den Vorstellungen der Kinder, aber auch an unseren. Letztlich waren die wirklichen Wünsche der Kinder wichtiger. Zum Beispiel bei der Frage: Gymnasium oder nicht. Wenn vom Kind die totale Ablehnung kommt, ist es sinnlos, das zu erzwingen und es würde niemanden glücklich machen. In der Erziehung gibt es eben keine Garantie.