Zirkusfamilie
Manege frei für die Liebe!

Anne Gabriel-Jürgens

Ganze 6 mal 2,20 Meter haben die vier Pszoniaks zum Leben – zum Essen, Schlafen, Lernen, Spielen, Lieben. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person beträgt in der Schweiz 44 Quadratmeter. Doch den Pszoniaks reichts. Helle Holzschränke mit ein paar T-Shirts und jeweils drei Paar Schuhen über der Couch, 12 Bücher für 8 Monate in der Bibliothek ausgeliehen, im Regal gestapelt, drei Platten zum Kochen, zwei Legokisten, ein Bett mit Kuschelhase für die Kinder, eins zum Ausklappen für die Eltern. Handtuchschmale Dusche mit WC. Fertig ist die Welt. Eine picobello aufgeräumte Welt, denn für Unordnung ist kein Platz. Seit drei Jahren, seit Nadijas Geburt, wohnen sie jetzt zu viert in dem kleinen Wohnwagen. Vier Jahre länger, seit Mikolaj auf der Welt ist, zu dritt. «Ja, schreib eine traurige Geschichte über eine arme Polenfamilie, die auf so engem Raum ein unglückliches Zirkusleben führt», lacht Anna (39) und sieht in etwa so arm und unglücklich aus wie der Millionengewinner bei Günther Jauch.
14 Nationen, 14 Sprachen
Seit 14 Jahren reist Bartek (40) als Gitarrist mit dem Circus Knie durch die Schweiz, seit 12 Jahren ist seine grosse Liebe Anna auch mit dabei. «Wir waren jung, Bartek ist Musiker – was gibt es da Spannenderes, als in einem Wohnwagen durch ein fremdes Land zu fahren?» Anna serviert Pulverkaffee, macht dem Töchterchen einen Mittagsschlaf-Schoppen, wuschelt deren blonde Härchen und krabbelt kurz an Barteks Hand: «Weisst du, mein Mann ist hochtalentiert. Er spielt nicht nur wunderbar Gitarre, er komponiert auch. Brauchst du ein Lied?» Bartek lacht. Flirten die beiden da etwa wie die Teenies? Nach 23 Jahren Zusammensein? «She is a treasure », grinst er. Eindeutig, ein Flirt.
Englisch sprechen die beiden fliessend. Anna ist studierte Englischlehrerin. Gut leben kann man in Polen nicht von dem Gehalt, trotzdem hat sie ihren Job immer gemocht: das Unterrichten, die Schulkinder, der Klang der Sprache, die englische Literatur...
Jetzt arbeitet sie in der Wäscherei des Zirkus. Jeden Morgen von 8 bis 12 stopft sie die schmutzige Wäsche der Zirkusleute in grosse Wäschetrommeln, sortiert und bügelt. «DEFEKT» steht auf einer der Waschmaschinen. Deutsch wird im Knie nur von wenigen der 200 Mitarbeiter gesprochen. Und wenn, dann oft ebenfalls mit höchst kreativen Abwandlungen. Bei 14 Nationalitäten, 14 Sprachen, Dialekte nicht mitgerechnet, hilft Englisch im Alltag häufiger weiter; oder Französisch oder Hände und Füsse. Während Anna in einem der 60 Wohnwagen arbeitet und den oft schlammigen Weg dahin Schritt für Schritt geniesst, «weil es die einzige Zeit des Tages ist, in der ich ein paar Minuten für mich bin», frühstückt Bartek mit den Kindern und sorgt dafür, dass Mikolaj, der Grosse, pünktlich zur Schule kommt.
5 Kinder lernen in der privaten Zirkusschule in einem Wohnwagen. Ivan, der Älteste, der bald in die 6. Klasse kommt, multipliziert und dividiert; Mikolaj, der Erstklässler, entschlüsselt Buchstaben; Moritz, allein im zweiten Schuljahr, blättert im Räuber Hotzenplotz. Eine Primarschule auf Rädern. Das rollende Klassenzimmer.
Uffzgis und Elefanten
Konzentriert lernen hier die Söhne der Besitzerfamilie neben Artisten-, Gabelstaplerfahrer- und Gitarristenkindern, Schichten im Querschnitt wie bei einem Stück Baumkuchen. «Na und?», findet Andrea Zweifel (38), die Lehrerin: «Kinder sind Kinder.» Nicht im Traum käme sie auf die Idee, ein Kind, das den Winter über eine angesehene Schweizer Privatschule besucht, anders zu behandeln als eines, das irgendwo bei Katowice mit 30 anderen in einem Klassenzimmer hockt. Natürlich nimmt sie Rücksicht, wenn etwa der 12-jährige Ivan Knie für seine Pferdedressurnummer, bei der er Sprünge auf dem Pferderücken vollführt, mal kurz vor Unterrichtsschluss zur Probe saust. Klar, darf auch sein Cousin zweiten Grades, Chris (7), mal fehlen, wenn die Premiere ansteht und er die Elefantendamen Delhi, Ceylon und Ma Palaj zum «Männchen machen» animieren soll. Aber ansonsten gilt für alle: Schule ist Schule, Uffzgi, Uffzgi. Sonderrechte? Keine. Und wenn manchmal ein Hauch von Dünkel durch die Klasse weht, etwa, wenn bei der Besichtigung von Schloss Werdenberg die einen die Eingangshalle «Boah, riesig!» finden – und die anderen mit «Phhh, das soll gross sein?» kontern, dann wird dieser Hauch von der Lehrerin mit einem Arbeitsauftrag schneller verwedelt, als die Kinder überhaupt geschaltet haben. Ein «Oben» duldet Andrea Zweifel nur bei Trapeznummern.


Komplette Welt im Kleinen
Mikolaj würde aber ohnehin mit niemandem tauschen wollen. Aufgeregt rennt er an diesem Dienstag-Ausflug von Schlossfenster zu Schlossfenster, kichert mit seinem Schweizer Freund Moritz, mit dem er sich prächtig versteht, obwohl sie sich nicht verstehen, und saugt nebenbei das Deutsche auf wie ein Staubsauger. Vier Wochen besucht er jetzt die Schule und schon kapiert er, wenn die Lehrerin ruft: «Aufstellen für ein Erinnerungsfoto! » «Nein, keine Grimassen ziehen!» Mikolaj schmurgelt, hüpft und summt vor sich hin, wie glückliche Jungs das an warmen Frühsommertagen eben tun. Etwas Besseres als ein Zirkusleben kann er sich nicht denken. Wie auch – er kennt kein anderes. Aber eine Kindheit zwischen 36 Pferden, 23 Ponys, Elefanten, Hängebauchschweinen, Watussis, Guanacos, Äffchen, Zwergziegen und Zebras – das hat schon was. Biologie gibts hier frei Haus. Erdkunde und Politik auch.
Die marokkanischen Mitarbeiter sind die, die so gut französisch sprechen und es oft kalt hier finden; die chinesischen die zarten mit den biegsamen Körpern. Die Sprache der ukrainischen Artisten rollt und rumpelt so schön dunkel wie ein bei Nacht gezogener Wohnwagen. Und die Nordkoreaner, das sind die Männer und Frauen, die sich zuweilen etwas abseits halten. Warum, wird Anna ihrem Sohn Mikolaj bald erklären. Dass Länder und Regime Menschen prägen, wird sie nicht mehr erklären müssen.

Der Zirkus ist wie eine Welt im Kleinen. Eine Insel, ja. Eine Insel der Seligen, nein. «Für uns ist er das allerdings fast», lacht Bartek, ermahnt seinen Sohn, der gerade zu Moritz abschwirren will, die Campingplatzschlamm- verdreckten Schuhe vor deren Wohnwagen auszuziehen. Er träumt laut davon, welche Chancen Mikolaj später in Katowice haben wird, wenn er mehrere Fremdsprachen fliessend beherrscht, wie die Kinder vielleicht studieren, gutes Geld verdienen ... Und während der Schwärmerei sieht er seine Frau so an, wie Frauen sich Männerblicke auf einer solchen Insel der Seligen vorstellen. Anna lächelt: «Noch haben wir es perfekt », sagt sie, «noch.» Denn dass alles schwieriger wird, wenn der Junge mit der Primarschule fertig ist, wenn die Pubertät dem einträchtigen Schlafen von Bruder und Schwester dazwischenfunkt, das ist ihr klar. «Aber das überlegen wir dann. Jetzt jedenfalls haben wir das Privileg, zusammen sein zu können.» Eng zusammen. Alle. Ständig. Kriegt man da nicht auf die Dauer Beklemmungen? Anna guckt verständnislos. Beklemmungen, weil man mit den liebsten Menschen, die man auf der Welt hat, nah beieinander ist? Eigenartige Frage. Beklemmend findet sie eher, dass es hier im Zirkus Menschen gibt, die ihre Familie nur im Winter oder auf Skype sehen. Die acht Monate Tournee allein, ohne die, die ihnen am Herzen liegen, in den «Abteilen» auf 2 mal 2 Metern wohnen und zur Toilette über den Platz tappen müssen.
Und eng um die Brust wird ihr auch, wenn sie sieht, dass es viele Schweizer Familien gibt, in denen die Mutter ganztägig hier, der Vater dort arbeitet und die Kinder bis aufs Wochenende von anderen Menschen betreut werden. «Das ist doch traurig», sagt die 39- Jährige. «Ich habe das Glück, mit Bartek und meinen Kindern Mittag zu essen, die Kleinen aufwachsen zu sehen, beieinander zu sein.» Beieinander, gut. Aber so nah? Was ist mit Streit? Mit sich aus dem Weg gehen, Privatsphäre, Türen, die man knallen möchte, wenn es im Wohnwagen überhaupt welche gäbe? «Wir streiten nicht», sagt Anna. «Warum auch? Wir wissen doch, was den anderen nervt – weshalb sollten wir das dann tun?» Äh, ja. So kann man es auch sehen.
Leben als Gesamtpaket
Morgens um zehn trinken die beiden mit Töchterchen Nadija gemeinsam eine Tasse Kaffee, dann geht Bartek joggen. Nachmittags ist Probe, abends Vorstellung bis etwa 23 Uhr. Gespielt wird an 243 Tagen im Jahr in 43 Schweizer Städten, dazu kommt das Üben und das traditionelle Weihnachtskonzert in Amsterdam.
Arbeit – Freizeit, das trennen die Pszoniaks nicht. Alles zusammen ist das Leben. Und was für eins, denkt Bartek manchmal, wenn der Vorhang in der Manege aufgeht, er anfängt zu spielen und sein Töchterchen aus dem Zuschauerraum plötzlich ganz laut auf Polnisch «Tata!», Papa, ruft.
Arme, unglückliche polnische Zirkusfamilie? Die Geschichte wird nix.


