Wie Eltern von Schreibabys aus der Erschöpfungsspirale herausfinden
Schrei, Baby!

Schreien ohne Ende: Schreibabys können Eltern zum Verzweifeln bringen.
Die Windeln sind sauber, getrunken hat es eben erst, müde wird es auch nicht schon wieder sein, im Tragetuch darf es sogar Mamas Nähe spüren – und trotzdem weint das Baby. Schreit aus Leibeskräften, als wollte es der halben Welt mitteilen, dass etwas nicht ist, wie es sein sollte. Doch was bloss? Möchte es abgelegt werden? Ist ihm kalt, zu warm? Langweilt es sich? Ist es überreizt? Eine Mutter eines Schreibabys erzählt: «Ich suchte die ganze Zeit nach Gründen fürs Schreien.» Bei ihrem ersten Kind, wusste sie das Weinen meistens zuverlässig zu deuten. Nicht so beim zweiten. Schon in den ersten Tagen nach der Geburt beschlich sie ein Gefühl der Überforderung. «Einzig an der Brust wurde der Junge ruhig», sagt die Mutter. Das habe die Sache nicht einfacher gemacht. Denn der Kleine wollte schliesslich nachts alle eineinhalb Stunden gestillt werden: «Meine Reserven waren schnell aufgebraucht.»
Dass Babys weinen, ist normal. Ganz besonders in den ersten Lebensmonaten. Das erleben Eltern auf der ganzen Welt. So teilt das Neugeborene seinen Bezugspersonen mit, dass es etwas braucht; dies ist eine grosse Hilfe für die tägliche Pflege. «Können die Eltern die Bedürfnisse des Babys erkennen und befriedigen, wird die Beziehung zum Kind gestärkt», sagt Thomas Harms, Psychologe und Schreibaby-Experte aus Bremen. Gelingt das nicht, sind die Eltern verunsichert, schnell geraten sie in eine Angst- und Erschöpfungsspirale.
Organische Ursachen sind selten ein Problem
Wer sich Sorgen macht, wenn das Kleine auf keine Art und Weise zu beruhigen ist, sollte kinderärztlich abklären, ob organische Störungen oder Blockaden Ursache für das untröstliche Schreien sind. «Solche findet man jedoch nur in drei bis fünf Prozent der Fälle», sagt der Winterthurer Kinderarzt Dr. Kurt von Siebenthal. Hartnäckig hält sich der Glaube, dass sogenannte Dreimonatskoliken der Grund für häufiges Weinen sind. Fachleute sind sich mittlerweile jedoch einig, dass der aufgetriebene Baby-Bauch eher die Folge als die Ursache des Schreiens ist. «Mögliche Ursachen für ein ‹schwieriges› Temperament des Babys können stressreiche Schwangerschaften, schwierige Geburten oder traumatische Bindungserfahrungen wie etwa verfrühte Trennungen sein», sagt Thomas Harms.
Eltern wissen: Frustration, Wut und Hilflosigkeit wachsen, wenn das Baby viel weint. Und nicht selten machen sich vor allem Mütter Vorwürfe und Schuldgefühle plagen sie. Es kommt vor, dass das ständige Schreien Frauen selber zum Weinen bringt, weil sie einfach nicht wissen, was sie noch tun können. «Ich bin eine schlechte Mutter», denken sie sich, sind völlig aufgelöst und würden die Kinder am liebsten weggeben. Gleichzeitig staut sich die Wut auf, gegen sich selber, aber auch gegen das Baby.
Heilsames Gespräch
Spätestens dann ist der Moment gekommen, sich Hilfe zu suchen. Zum Beispiel bei Edith Müller-Vettiger. Sie ist in Emotioneller Erster Hilfe (EEH) ausgebildet und berät Eltern, die mit ihren Babys nach der Geburt in eine Krise geraten. EEH ist eine körperorientierte Kurzzeit-Therapie, die von der Ärztin Eva Reich und dem Psychologen Thomas Harms entwickelt wurde. Die Wurzeln der EEH liegen in der modernen Körperpsychotherapie sowie der Gehirn- und Bindungsforschung.
«Während meiner ersten Kontakte mit untröstlich schreienden Babys merkte ich, dass die Eltern in solchen Streßsituationen kaum fähig waren, Ratschläge, Tipps oder Informationen aufzunehmen», sagt Thomas Harms. «In der Tiefe veränderte sich nichts.» Er stellte fest, dass viele Eltern im Umgang mit dem weinenden Säugling verängstigt waren, verkrampft, ohne Vertrauen in ihre eigenen Kompetenzen. Denn bei Stresssituationen hält man automatisch die Luft an, der Körper verspannt sich.
Gefühle zulassen
Befinden sich Eltern jedoch in ständiger Alarmbereitschaft, sind sie weniger aufnahmebereit für die Botschaften, die das Baby aussendet. Gleichzeitig wirkt ihre Unsicherheit ansteckend: Das Kind übernimmt die Angsthaltung, reagiert irritiert, quengelig, bricht den Kontakt ab. «Babys brauchen für eine gesunde Entwicklung jedoch in sich ruhende und entspannte Beziehungspartner», so Harms. Der Körperpsychotherapeut begann deshalb, die Eltern anzuleiten, auf ihre eigenen Körpersignale und Wahrnehmungen zu achten.
Sie sollten merken, wann sie aus dem Kontakt mit dem Kind auszusteigen begannen. Harms: «Unser Fokus ist im Jetzt. Manchmal kommen zwar Themen an die Oberfläche, die verstärkt angeschaut werden müssen. Unser Ziel ist es jedoch, den Eltern zu helfen, eine sichere und stabile Bindung zu ihren Kindern aufzubauen.»
In Edith Müllers Therapie- und Beratungsraum lernen verzweifelte Mütter, das weinende Kind in den Arm zu nehmen und liebevoll zu halten, dabei beide Füsse mit dem Boden zu verbinden, in den Bauch zu atmen, innerlich präsent zu sein und die Gefühle anzunehmen, die auftauchten. «Wo Gefühle zugelassen werden, öffnet sich das Herz, etwas wird weich», sagt Edith Müller. Eine Mutter bestätigt das: «Wenn mein Junge heute weint, obwohl seine Bedürfnisse befriedigt sind, bin ich nicht mehr mit meiner ganzen Aufmerksamkeit nur bei ihm, sondern versuche, innerlich in meiner Mitte zu bleiben. Ich sage ihm dann: ‹Ich spüre, Du hast eine Not. Was auch immer es ist, ich bin für dich da.›»
Kind darf wieder weinen
Heute darf das Kind weinen, ohne dass seine Mutter gleich unruhig wird. Allein gelassen wird er aber nicht. Edith Müller betont, dass es nicht darum gehe, das Baby unbegleitet schreien zu lassen. «Die Eltern sollen die Gefühle zum Kind nicht abschneiden, sondern die Verbindung aufrechterhalten. Man weiss, dass Babys über das Schreien oft einfach Spannung abbauen, die sich aufgestaut hat.» Eltern, die Emotionale Erste Hilfe in Anspruch nehmen würden, hätten danach oft wieder ein entspannteres Familienleben. Und Mütter, so Müller, könnten die unguten Gefühle sich selber gegenüber und den Druck ablegen.
Emotionelle Erste Hilfe und andere erste Hilfen
- Emotionelle Erste Hilfe, Infos unter www.eeh-schweiz.ch
- Elternnotruf: 044 261 88 66, www.elternnotruf.ch
- Entlastungsdienst Verein «Schreibabyhilfe», www.schreibabyhilfe.ch
- Training in EEH am Polarity Bildungszentrum Schweiz: 044 218 80 80, www.polarity.ch
TIPPS IM UMGANG MIT SCHREIBABYS
- Möglichst viel Körperkontakt ist das Ideale für Neugeborene. Der getragene Säugling entgleist nicht so stark, denn die körperliche Nähe und die Gehbewegungen beruhigen ihn
- Die Atmung ist ein Frühwarnsystem für Stress. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit während grosser Anspannung auf den Atem, atmen Sie tief in den Bauch
- Achten Sie, während das Baby schreit, auf ihre eigenen Körperempfindungen. Dadurch verbessert sich ihre Entspannungs- und Kontaktbereitschaft
- Lernen Sie, Ihre Mitte zu bewahren und dem Baby eine Sicherheitsstation zu sein
- Wenn ein Baby weint, sollte es nicht zusätzlich stimuliert oder abgelenkt werden
- Cranio-Sacral-Therapie oder Osteopathie können körperliche Blockaden lösen, die während Schwangerschaft oder Geburt entstanden sind
- Gönnen Sie sich Auszeiten, damit Sie Ihre Ressourcen nicht aufbrauchen
- Ertragen Sie das Weinen des Babys nicht mehr oder spüren Sie unkontrollierbare Wut in sich aufsteigen, brauchen Sie therapeutische oder beratende Unterstützung. Legen Sie das Kind ab, bis Sie sich beruhigt haben. Schütteln kann das Baby lebens bedrohlich gefährden
BUCHTIPP
Thomas Harms: Emotionelle Erste Hilfe. Bindungsförderung, Krisenintervention, Eltern- Baby-Therapie. Leutner-Verlag, Fr. 29.90