
Gabi Vogt
Selbstversuch
Skilehrerin bei den Allerkleinsten
Skifahren zu lernen ist für Kinder nicht leicht. Es ihnen beizubringen aber erst recht nicht. Ein Tag als schweissgebadete Hilfs-Skilehrerin.
Schnittiges Outfit, durchtrainiert bis in den letzten Muskel, Arbeitsort: Pulverschnee. Zudem da zu Hause, wo andere Urlaub machen – ja, Skilehrerin ist ein glamouröser Beruf. Ausser: man ist eine. Wie ich an diesem Tag. Als Hilfs-Skilehrerin angetreten in der Skischule Valbella-Lenzerheide, um den Allerkleinsten das Skifahren beizubringen. Vor allem aber, um bei den Profis herauszufinden, wie man das am sinnvollsten macht. Und vielleicht, so mein heimlicher Plan, den Kindern irgendwie als Vorbild zu dienen. Momentan stecke ich allerdings kopfüber in einer dunklen Kiste fest.
Ein Zen-Mönch zu Ski
Und das kam so: «Caren, könntest du bitte die Anti-Rutschmatte aus der Kiste mitbringen», hatte mir mein Chef-Skilehrer Luca Barandun (27) freundlich aufgetragen. Die Matte sei wichtig im Spielparcours zum Thema «Zirkus», damit die 3- bis 3½-jährigen Kinder, die hier in einer halben Stunde auftauchen, auf dem eben nur beinahe flachen Kinderland nicht ständig rückwärts rutschen. Denn: Frustration gleich zu Beginn ist pädagogisch nicht wertvoll. Frustrierend, dass ich gleich zu Beginn feststellen muss, dass so eine Matte rund 45 Kilo wiegt und sich keinen Zentimeter bewegen lässt. Luca klaubt mich und Utensil wortlos aus der Kiste, klemmt sich das Mättchen unter einen einzigen Arm und macht sich an die Zirkus-Möblierung. Geduldig, freundlich, ein Mann vom Typ Bombenentschärfer: durch nichts aus der Ruhe zu bringen, ein Zen-Mönch zu Ski. So viel vorweg: Eigenschaften, die es sich zügig anzueignen gilt, will man Kindern das Skifahren beibringen.
Auch wenn es heute nicht mehr so ist wie 1963 von Vico Torriani besungen «Alles fährt Ski. Ski fährt die ganze Nation...», wollen dennoch viele Eltern (die es sich leisten können), ihre Kinder in den Sport zumindest mal hineinschnuppern lassen. Rund 150 Skischulen stehen landesweit dafür parat. Auch wenn Mutter und Vater es vielleicht selber beibringen könnte – Fakt ist: Kinder lernen besser zusammen mit anderen Kindern.

Luca Barandun (27), Skilehrer
Schluchzen und Klammern
Jetzt aber schnell den riesigen Stoffhasen hinstellen, eine Manege mit einem Seil simulieren, Seifenblasendose in die Mitte, eine Kiste mit Plastikfischen neben die Matte platziert. Und da sind sie schon: die ersten Schüler. Die Zwillinge Marin und Levi (3½), letzterer schluchzend zum Schneeerweichen. Klammern an Mamas Bein, wildes Weinen Richtung Papa, düsteres Ignorieren von Lucas Teddy, der jeden Ankömmling mit Tatzenschlag begrüsst. Mehr Unglück passt nicht in einen kleinen Skianzug. Beklommen schleichen die Eltern davon. Nur Sekunden später wischt Levi seine Tränen weg, das ganze Kind beste Laune verteilt auf 1,10 Meter. Wie? Was? Ist das der gleiche Junge wie vorhin? Muss wohl. Sieht jedenfalls dem anderem, der zufrieden ein Loch in den Schnee buddelt, täuschend ähnlich.
«Das ist oft so», lacht Luca. «Die Kinder weinen exakt so lange, wie die Eltern noch zu sehen sind.» Aber was, wenn das Heulen anhält? «Dann erzählt der Teddy noch eine Geschichte» und wenn das alles nicht helfe, dann, erklärt Luca, sei das Kind möglicherweise noch zu jung für einen Skikurs. Windel- und elternfrei von 9.45 bis 11.45 Uhr, das ist die Voraussetzung. Schliesslich gehört Wedeln, nicht Wickeln zum Jobbeschrieb von Skilehrer* innen. Mögen auch manche Eltern in ihrem Kind einen zweiten Pirmin Zurbriggen wittern, den es quasi ab letzter Presswehe maximal zu fördern gilt – in der Skischule heisst das Einstiegsalter drei. Punkt. Diskussionen zwecklos. «Es soll ja Spass machen, da bringt Zwang nix. Ausserdem muss schon die notwendige Muskelkraft vorhanden sein», meint Luca. Gleichgewichtssinn, Konzentrationsfähigkeit und Koordination sind ohnehin erst ab drei Jahren ausreichend weit, sagt die Entwicklungspsychologie. Gefahren richtig einund abschätzen können Kinder frühestens ab fünf Jahren, Risiken vorausahnen und vorbeugen gelingt erst ab acht.







Grunzender Löwe
Inzwischen sind auch die anderen beiden da, Maya und Michiel. Zum Glück weint weder sie noch er. Das weitere angemeldete Kind ist krank. Jetzt gehts ans Aufwärmen. Denn ohne Aufwärmen drohen Zerrung oder Frieren. Wir singen «Aramsamsam». «Arafi, arafi, gulligulligulligulli ramsamasam!» Ich muss sagen, beachtliches pädagogisches Talent ist der Hilfs-Skilehrerin nicht abzusprechen. Textsicher in Wort und Geste. Da zahlt sich langjährige aktive Teilhabe am Après-Ski doch mal aus. Die Kinder gucken sich das Ganze befremdet an, wenigstens klatschen sie manchmal höflich mit. Danke, liebe Kinder.
Nach der ersten mentalen Einstimmung gehts ans Hüft- und Muskelpräparieren. Frei nach den Sportfreunden Stiller «Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein», wenn ich das richtig verstanden habe. Deshalb jetzt: Tiere nach Geräuschen raten. Wir stehen im Kreis, Luca in der Mitte. Luca grunzt. Na, was ist das für ein Tier? Löwe, findet Maya. Und weil der Löwe generell ein super Tier ist, stimmen die anderen zu. Ja, grunzt, wird Löwe sein. Der grunzende Löwe muss versuchen, aus dem Kreis zu fliehen. Grosses Hallo, Gelächter, kleine Menschen mit Helmen werfen sich auf den grunzenden Löwen. Gefangen! Neues Tier. Ich miaue. Welches Tier? Löwe! Die Spielregeln der Kinder sind unklar, aber egal. Vier Kinder entern die miauende Löwin. Memo an mich: Bandscheibenvorfall googeln, Voltarensalbe kaufen.
Rein ins Krokodil den Schuh
Die Skier werden montiert. Jetzt gilts ernst. Jetzt wirds sportlich und schweisstreibend. Ausser für die Kinder. Denn nur Maya schafft es, die Bretter allein anzuziehen. Was für die Skilehrerin bedeutet: bücken, schwankenden Jungen ausbalancieren, umgefallenen Jungen aus dem Schnee ziehen, Skischuh von Schnee freiklopfen, anderen Skischuh vom Schnee freiklopfen, ersten Skischuh – weil wieder abgestellt – vom Schnee freiklopfen, Schuhe in die Bindung, das «Krokodilmaul», wurschteln. «Ja, da genau mitten rein ins Maul des Krokodils. Nein, das beisst nicht. Nein, niemals. Ja, ein ganz liebes Krokodil. Hallo, du liebes Krokodil! Erst vorne, ja. Neeeiiin, nicht den Fuss in den Schnee.» Runterdrücken. Super. Nächsten Jungen ausbalancieren, freiklopfen, ächzende Lendenwirbel ignorieren, ersten Jungen einfangen, zweiten Jungen aufrichten, klopfen, schwitzen. Schwitzen! Schwitzen!!!
Skifahren lernen beginnt im Wohnzimmer
«Das alles könnten auch die Eltern schon mit den Kindern üben», sagt Luca und es ist nicht ganz klar, ob das Anregung oder Wunsch ist. Denn Skifahren lernen, beginne weit vor der Piste. Schon Ein- bis Zweijährige sollten viel im Schnee spielen, um dieses weisse, kalte Zeug schätzen zu lernen und zu spüren, wie man sich so fühlt, mit dicken Schuhen auf rutschigem Untergrund. Etwas später könnten Kinder versuchen, allein in die Skischuhe zu kommen. Und falls es eigene Ski gibt (hier reichen billigste Modelle vom Flohmarkt oder auch Ski-Vorläufer mit Profil), in Wohnzimmer oder Garten herumspazieren. Kinder finden das lustig. Lustig macht Lust zu lernen.
An Station drei und vier des Parcours gehts nun darum, mit den Skiern zu laufen: mit Ziel und bergauf. Unter einem Grüppchen von Pylonen hat Luca Stofftierchen versteckt: Die sollen die Kinder finden. Kraxeln, suchen, finden, jubeln, künftig gerne kraxeln, steckt wohl als pädagogischer Gedankengang dahinter. «Alle gefunden!» ruft Maya, weil sie als einzige mit Kanteneinsatz bergauf laufen kann. Zwei der drei anderen bewegen sich keinen Meter und lassen sich zum Sound meines Geschnaufes ziehen und schieben; Michiel dagegen läuft tadellos, allerdings in die falsche Richtung. Doch wenig später hat es Luca, der gute Hirte, trotzdem geschafft, seine Schäfchen wieder einzusammeln und gegen jedes Gesetz der Gerechtigkeit alle Tierchen noch mal finden lassen, die Maya schon längst gefunden hatte. Maya mault. Der kommunistische Grundgedanke des «Alles gehört allen» liegt ihr nicht.
Luca Barandun (27), Skilehrer
Und: los!
Pause im Tipi mit Tee und Crackern. Ein Liedchen wird gesungen. Geplant war: «Snowli, Snowli üsara Fründ», doch irgendwer hat «Oh, Tannenbaum» angestimmt. Auch gut. Hauptsache sitzen.
Jetzt wird gefahren. «Hurra!» ruft Maya und fährt schon mal los. «Hurra!», ruft Marin, setzt sich und gräbt ein Loch in den Schnee. «Hurra!», ruft Michiel, weil die anderen auch Hurra! rufen und zieht seine Handschuhe ab. Wer je behauptet hat, es sei schwierig, einen Sack Flöhe zu hüten, hat nie einen Sack Flöhe auf Ski gehütet.
Luca bleibt buddhistisch entspannt. Kind für Kind fährt mit ihm am ausgestreckten Skistock. Die Kinder strahlen. Toll. Heil unten angekommen und richtige Bögen gemacht, na so was. Danach fährt jedes allein. Ski in paralleler «Pommes» Haltung (der Pizza-Schneepflug kommt später) Plastikfisch fest vorne auf die Knie gedrückt für die perfekt vorgebeugte Haltung uuuund: los!

Bremsen kann man nur selber lernen
Von diesen speziellen Kinder-Geschirren mit denen Eltern ihre Sprösslinge im Temporausch abbremsen, wie auch von lange zwischen den Elternbeinen den Hang heruntercruisen hält Luca nicht viel: «Wie sollen Kinder ein Gespür dafür bekommen, wie schnell sie sind, was mit den Ski passiert, wenn sie das Gewicht verlagern und wie wichtig Bremsen ist, wenn das jemand anderes für sie erledigt?» Berechtigte Frage. Allerdings finden unsere Kinder bremsen eher störend und gucken missmutig auf die Ski, wenn die Biester stoppen. Noch mal!
Fazit nach zwei Skischul-Stunden: 4 rotleuchtende Gesichter vor Stolz (Kinder). 1 rotleuchtendes Gesicht vor Schwitzen (ich). 1 gut gebräuntes Gesicht (Luca), das zum Abschied Seifenblasen in den Himmel pustet. Am Horizont erscheinen jetzt die Eltern. Maya fährt schon mal los, Marin will endlich auch Seifenblasen pusten, Michiel sucht seinen Handschuh, Levi sackt schluchzend zusammen, Luca winkt mit dem Teddy «Bis morgen!». Morgen? Morgen ist die Hilfs-Skilehrerin nicht mehr dabei. Sie ist traurig. Ihre Lendenwirbel sind froh.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.