Erziehung
Was Hänschen nicht lernt...

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Zum Elternsein gehört die Angst, etwas falsch, zu viel, zu wenig oder zu spät zu tun. Dabei scheinen die Anforderungen zu Beginn noch simpel. Baby weint: füttern. Baby weint: sauber machen. Baby weint: schlafen legen. Doch mit dem Kind wächst auch im elterlichen Kopf die Frage: Warum schreit es denn nun schon wieder, wenn die Möglichkeiten 1 bis 3 auszuschliessen sind? Wäre es denkbar, dass das Gebrüll reine Schikane ist? Geltungsdrang? Und: Ist dies vielleicht der rechte Moment, um mit der Erzieherei anzufangen? Getreu dem Motto: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Aber was ist das eigentlich genau: Erziehung?
«Finger aus der Nase!» und «das schöne Händchen geben»? Ein Gutenachtlied? Wie sieht es aus mit dem Badebuch «Ahoi, kleiner Pinguin», das vielleicht den Grundstein zur Lesekompetenz legt? Und ist «Erziehung» nicht überhaupt ein Begriff, der ins pädagogische Brockenhaus gehört, wie es erstaunlicherweise Ex-Super-Nanny Katharina Saalfrank in ihrem neuen Buch «Du bist o.k., so wie du bist – Das Ende der Erziehung» verkündet? Viele Fragen. Moritz Daum hat Antworten. «Erziehung beginnt mit dem ersten Tag, ob man will oder nicht», erklärt der Professor für Entwicklungspsychologie an der Uni Zürich. «Kinder sind von Geburt an Lernmaschinen. Sie beobachten, ahmen nach, denken und ziehen ihre Schlüsse.» Folglich gelte – wie es seine Kollegin Susanne Grassmann mal formuliert habe – frei nach Watzlawicks These zur Kommunikation: «Man kann nicht nicht erziehen.» Stellt sich also nur noch das Problem: ab wann und wie?
Fünf Stunden und 30 Minuten täglich verbringen, laut Zeitbudgetstudie des deutschen Statistischen Bundesamtes, Eltern mit ihren Kindern. In dieser Zeit passiert mal mehr, mal weniger. Aber egal, was passiert; das Kind wird es interpretieren und zu einem Gerüst seiner Welt zusammenzimmern. Papas abgelecktes Messer wird da genauso ins Weltkonzept eingebaut wie Mamas Strahlen nach der guten Mathearbeit, der Stubenarrest wegen des auf dem Kopfkissen der Schwester platzierten Wurmes und das Gebot: «Die Schuhe bleiben draussen.»
Drumherum drücken um die Einflussnahme geht nicht, soll auch nicht gehen. «Denn», sagt Moritz Daum, «durch konsistente, prompte Reaktionen auf ein Verhalten erwerben Kinder Vertrauen und Sicherheit.» Regeln und Normen seien nicht Fetische autoritärer, ewig gestriger Eltern, sondern gehörten zu jeder Art des Zusammenlebens. Und diese Spielregeln zu beherrschen, gebe Kindern in einer zunächst unverständlichen Welt Sicherheit; sie anwenden zu können Selbstbewusstsein. Wer je den Linksverkehr in England begriffen hat, kennt die Erleichterung.
Und doch, betont Irene Campi, Psychologin und Erziehungsberaterin in Baden, sei Erziehung mehr als eine Gebrauchsanweisung für die Welt. Und «eine für alle», «richtig oder falsch» und «wenn – dann» könne man vergessen. «Was zählt, sind Liebe und Bauchgefühl», so Campi. «Leider ist vielen Eltern vor lauter Erfolgsdruck und klugen Ratschlägen das Wichtigste verloren gegangen: das intuitive Erfassen dessen, was ein Kind braucht, wie sein Charakter ist und wie sein Entwicklungsstand.» Denn davon und nicht von Rezepten hänge ab, was an Verhalten erwartet werden kann und welche Elternreaktion passend ist. Ein Kleinkind auszuschimpfen, weil es sich nicht lange allein beschäftigen kann, ist in etwa als schimpfte man, weil es die Hummerzange nicht korrekt bedient. Deshalb hier eine «Erziehungsübersicht», weil sich mit dem Alter ständig vieles ändert: Bedürfnisse, Möglichkeiten, Umwelt ... Bei Kindern – und allen anderen.
Baby – Alter: bis zu 1 Jahr
Situation:
Schreit, obwohl satt, sauber, ausgeschlafen.
Um was geht es in dem Alter?
Vertrauen erwerben. Das sichere Wissen: «Ich bin nicht allein, mir wird geholfen, ich werde gemocht.»
Erziehen, aber wie?
Aufnehmen, trösten. Keinesfalls längere Zeit weinen lassen. Lieben, lieben, lieben. Verwöhnen ist noch unmöglich.
Geschafft:
Baby kann ab und an ein paar Minuten warten, weil es weiss: «Mama und Papa lassen mich nicht im Stich.» Robustes Vertrauen in die Welt.
Kleinkind – Alter: 1–3 Jahre
Situation:
Schreit, weil empörenderweise abends die Spielsachen verräumt werden.
Um was geht es in dem Alter?
Den eigenen Willen entdecken, erproben, durchsetzen – auf Teufel komm raus. Trotz- und Wutanfälle sind normal. Getestet wird, mit welchen Methoden sich Ziele erreichen lassen.
Erziehen, aber wie?
Ruhig, ganz ruhig. Vorbild sein, nicht gleichfalls hitzig werden. Bewusste Erziehung kann und sollte jetzt beginnen. Trotzkopf? Okay. Tyrann? Nein. Gefordert ist souveräne Autorität statt Machtkampf. Keine langatmigen Erklärungen oder Diskussionen; das Kind ist noch nicht in der Lage zu abstrahieren. Den tobenden Zwerg loben, wenn er sich wieder beruhigt hat.
Geschafft:
Einen eigenen Willen entwickeln, ihn durchsetzen (wenn möglich), damit umgehen können, wenn es nicht möglich ist. Autoritäten anerkennen. Ziele setzen können.
Spielgruppen- und Kindergartenkind – Alter: 3–7 Jahre
Situation:
Schreit, weil es das geblümte Sommerkleid trotz Frost anziehen will.
Um was geht es in dem Alter?
Einfügen in die Gemeinschaft, in Gruppen. Etwas zusammen machen, gemeinsam spielen, miteinander umgehen, beliebt sein, Freunde finden.
Erziehen, aber wie?
Einfühlen ins kindliche Denken. Ernst nehmen. Warum ist gerade heute dieses Kleid wichtig? Interesse an Beweggründen haben. Jetzt ist es reif genug für Erklärungen, Verhandlungen, Argumente und Kompromisse. Warum also nicht das Sommerkleid mit einer dicken Strumpfhose und Strickjacke kombinieren?
Geschafft:
Erstes Loslösen. Autonomie ist toll. Freunde zu haben auch. Beissen, kratzen, kreischen haben – meist – kultivierteren Konfliktformen Platz gemacht. Und: Manchmal gehts ganz ohne Mama.
Schulalter, Vorpubertät – Alter: 7–11 Jahre
Situation:
Schreit herum. Hausaufgaben sind blöd.
Um was geht es in dem Alter?
Selbstbewusstsein erwächst aus Leistung. Erstmals wird das Kind von aussen bewertet, damit muss es zurechtkommen. Fleiss, gesunder Ehrgeiz und Pflichtgefühl müssen sich entwickeln. Eigene Gefühle können verbalisiert werden.
Erziehen, aber wie?
Zurücknehmen. Mehr Freiheit geben, eher Tipps als Vorschriften. Belohnungen wirken Wunder und helfen, den Satz «Jeder muss seinen Job machen, auch wenns mal nicht so viel Spass macht» zu verankern. Kinder sind in diesem Alter relativ pflegeleicht, Lehrer und Lehrerinnen bedeutende Regulative. Analytisches Denken ist dem Kind jetzt möglich, Erklärungen und Begründungen für Erziehungsmassnahmen dürfen daher ausführlicher ausfallen.
Geschafft:
Einsatz macht Spass. Misserfolg? Okay, zweiter Versuch.
Pubertät – Alter: 12–17 Jahre
Situation:
Geschrei, weil der Ausgang am Abend vor der Prüfung gestrichen ist.
Um was geht es in dem Alter?
Erwachsen werden, aber noch nicht sein. Hormonschübe aushalten. Gefühlsachterbahn händeln. Sex: ja, bitte? Oder doch eher: nein, danke? Wer bin ich überhaupt und wer will ich sein? Identitäten ausprobieren.
Erziehen, aber wie?
Auf Augenhöhe. Zu Hause bestimmen trotzdem die Eltern. Der Satz «So lange du noch die Füsse unter meinen Tisch steckst ...» ist staubig, miefig, altbacken – und nicht verkehrt. Den Jugendlichen Erfahrungen machen lassen und Konsequenzen – bis zu einem gewissen Grad – selber tragen lassen. Ruhe bewahren, stets ansprechbar bleiben. Humor hilft!
Geschafft:
Ausgekämpft. «Ich weiss, wer ich bin.» Eltern sind Ansprech- und keine Sparringspartner. Die Zukunft ist aufgegleist, privat, beruflich. Spannend und schön.