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Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?

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Mit seinen mittlerweile acht Jahren hat mein Sohn Emil einige Marotten und Leidenschaften entwickelt, die zwar durchaus liebenswert sind, aber doch auch ein bisschen merkwürdig erscheinen. Er ist zum Beispiel das einzige Kind, das ich kenne, was nicht gerne Süssigkeiten isst und mit unkindlicher Regelmässigkeit «etwas Gesundes!» verlangt. Darüber hinaus ist seine absolute Unfähigkeit, Hunger zu ertragen, in der Familie legendär. Er sammelt mit Leidenschaft ungewöhnliche Worte, die er zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten benutzt. Als Geburtstagsessen möchte er nicht etwa Pommes mit Fischstäbchen, sondern «Hackbraten mit Spätzle, Rotkohl und Pilzbratensosse». Er hat eine Schwäche für Aussenseiter und fühlt stark mit anderen Menschen mit. Ausserdem liebt er Geschichten.
Zu seinen Lieblingsgeschichten gehören die der Reihe «Weltliteratur für Kinder» vom kleinen aber sehr feinen Berliner
Kindermann Verlag,
der Klassiker von Goethe über Schiller bis zu Shakespeare für junge Leserinnen und Leser altersgerecht aufbereitet, ohne sich bei ihnen anzubiedern. Sie sind also weder dazu da, um Kinder mit vorgeblich humanistischer Bildung zu erschlagen, noch dienen sie als blosse Rahmen oder Namensgeber. Stattdessen zeigen sie in ihren bearbeiteten Fassungen, was der Stoff auch für Kinder bieten kann – richtig gute Geschichten. Schillers «Räuber» sind ein ziemlich cooler, rebellischer Haufen und Goldonis «Diener zweier Herren» ist einfach nur zum Kaputtlachen. Und weil der Kindermannverlag zu seinen Bücher auch hervorragende Hörbücher produzieren lässt, hat mein Sohn sich zu seinem Geburtstag unter anderem genau das gewünscht: Ein neues «Weltliteratur für Kinder» Hörbuch. Ich habe ihm «Der Kaufmann von Venedig» besorgt, weil ich dachte, das gefällt ihm möglichweise. Seine Reaktion hat mich dann allerdings doch überrascht: Er war stinksauer. Stinksauer darüber, wie übel man dem Juden Shylock mitspielt, das man ihn grundlos anspuckt, anfeindet und ausgrenzt und er schlussendlich auch noch mit juristischen Taschenspielertricks und borniertem christlichen Grossmut um seinen Besitz gebracht wird. Stinksauer aber auch darüber, wie jemand es nur für eine gute Idee halten kann, einem anderen «ein Pfund Fleisch» aus dem Körper schneiden zu wollen– egal wie schlecht er zuvor behandelt wurde. Dass ich ihm anschliessend erzählte, dieses Stück sei als Komödie gemeint, fand er überhaupt nicht witzig.
«Die sind alle voll gemein!» befand er, nachdem er die Geschichte gehört hatte. «Können die nicht einfach nett zueinander sein? Irgendwie sind die alle ziemlich doof!» Dann sah er mich scharf an und fragte:
«Wer von denen ist eigentlich der Böse?»
«Ähm, wie meinst du das?»
«Na einer ist doch schuld an diesen ganzen doofen Sachen.»
«Shakespeare vielleicht?»
«Nee, der hat das doch nur aufgeschrieben. Doof waren die Leute schon vorher.»
Ich versuchte es mit einem vorsichtigen Hinweis darauf, dass auch in anderen Geschichten, die er kennt, Gut und Böse nicht immer so klar zu trennen sind. Severus Snape zum Beispiel, Harry Potters zunächst verhasster Zaubertranklehrer, ist ja auch ein sehr widersprüchlicher Charakter, in dem beides steckt.
«Ja, aber den gibt es nur in dem Buch, weil Voldemort der Oberbösewicht ist und Snape deshalb mal so mal so sein kann.»
Das brachte mich ins Grübeln. Ist das wirklich so? Funktionieren ambivalente Figuren nur deshalb, weil sie in einen Rahmen von Gut und Böse eingebettet sind.
Gibt es überhaupt Geschichten, in denen es nur ambivalente Menschen gibt?
Gibt es überhaupt Geschichten, in denen es nicht ausschliesslich ambivalente Menschen gibt?
Und während ich noch nachdachte, war Emil längst einen Schritt weiter:
«Ich hör mir das noch mal an. Vielleicht finde ich ja heraus, wer schuld ist.»
Gute Idee, da höre ich mit. Vielleicht lerne ich ja noch was.

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Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.