Erziehung / Essen
Zu richtig is(s)t falsch

plainpicture/Jasmin Sander & plainpicture/NTB scanpix (Danny Twang)










Es gab einmal eine Zeit, da machte Essen satt. Wenn möglich auch Vergnügen. Das reichte. Lang, lang ists her. Heute dagegen soll Essen erheblich mehr. Nämlich: gesund machen, fit, erfolgreich, schön wie Gwyneth Paltrow. Ernährung zeigt den Lifestyle, scheidet den Proll vom Problembewussten, Falschesser von Richtigessern. Das gute Lebensmittel vom bösen. Rund um den Teller ist es kompliziert geworden und Unsicherheit häufiger Thema als Hunger: Ist es moralisch noch vertretbar, Fleisch zu braten? Es gar zu grillieren? Ist Gluten gefährlich? Macht Fett fett? Zucker süchtig? Und was ist mit Laktose, Ökobilanz, Chlorhuhn und Biofood aus Bulgarien? Gerade junge Eltern wollen alles richtig machen. Ganz besonders bei der Ernährung ihrer Kinder. Doch aus allzu richtig kann falsch werden. Das Mantra «Hauptsache gesund» macht Kinder zuweilen krank. Mindestens aber verhunzt es ihren natürlichen unbefangenen Umgang mit Nahrungsmitteln.
«Der gut gemeinte Schuss geht ganz klar nach hinten los», beobachtet Sonja Ricke, Ernährungsberaterin und Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Essstörungen Schweiz. «Ich betreue inzwischen immer häufiger Kinder, die zu dünn sind, weil sie von ihren Eltern zwar nicht zu wenig, aber einfach zu kalorienarme Kost bekommen. Unterzuckerte Primarschüler, weil es daheim keine Kohlehydrate gibt, 11-jährige Bulimikerinnen … Und sehr viele Kinder haben ihre Spontaneität beim Essen verloren und die Ernährung zur Kopfsache gemacht.» Junge Eltern hätten die allgegenwärtigen Tischgebote derart internalisiert, dass sie schon den Kindergartenkindern die Kategorien von «richtigem» und «falschem» Essen aufpfropften. Stadt-Eltern häufiger als Land-Eltern.
Auch im Chindgsi wird nicht mehr – wie noch in den 70ern – als Zwischenmahlzeit unbefangen das Butterbrot mit Leberwurst ausgepackt, begleitet von Kakao im Tetrapack. Die Sechsjährigen der Stunde knabbern Reiswaffeln und Vollkorncracker, Apfelschnitz und Rüebli, dazu Wasser und ungesüssten Tee. Die Info auf dem Elternabend lautet: «Bitte keine Bananen (zu süss!), kein Fruchtjoghurt (Zucker!) und keine Wurst (Fett!) einpacken.» Wer sich nicht exakt daran hält, findet im Znünitäschli des Töchterchens schon mal einen Zettel. «Bitte geben Sie Lea künftig keine fettige Mini-Pick-Salami mehr mit. Danke.» Das Kind schämt sich, die Mutter wider Willen auch. Sicher, Süsszeug als Pausenbrot ist nicht gerade gut – vor allem nicht für die Zähne. «Aber was ist gegen eine Salami ab und an einzuwenden?», fragt Sonja Ricke und lacht, obwohl ihr so recht nicht danach zumute ist. Zu traurig ist die Tendenz, die sie in den 25 Jahren ihrer Ernährungsberaterinnentätigkeit beobachtet. Da finden Primarschülerinnen immer häufiger, ein Spiegelei brate man am besten fettfrei, da wachsen Schulkinder «Low Carb» auf, möglichst ohne Brot, Kartoffeln, Reis und natürlich ohne Süssigkeiten. Und es kommen die Kinder der Überflussgesellschaft mit Mangelerscheinungen – etwa an B12 , weil das Vitamin vor allem in Fleisch vorkommt. «Neulich hatte ich einen 9-jährigen Jungen bei mir zur Beratung. Einen kleinen Eishockeyspieler, der ADHS-Symptome und Aggressionen zeigte. Tatsache war, das Kind war unterzuckert, eigentlich hatte er Hunger.»
Ein extremes Beispiel, sicher. Doch Fakt ist, dass zahlreiche Ernährungsdogmen schaden, weil sie schlicht Quatsch sind, manch scheinbar unumstössliche Wahrheit so wacklig ist wie ein Bauklotzturm.
Allein die sich angeblich epidemisch ausbreitende Zahl dicker Kinder – Wo sind sie eigentlich, die Scharen von Moppelchen? Ins Auge springen sie jedenfalls nicht. Klar, gibt es den pummeligen Jungen, das feste Mädchen und den Nachbarsbub mit dem Spitznamen «Pudding». Allerdings hat es die zu allen Zeiten gegeben. Inzwischen geben Wissenschaftler zu, dass an der steilen These, Europas Jugend verfette schneller als ein Dampfkochtopf garen kann, so recht nichts dran ist. Einige Gruppen sind betroffen, das jedoch ist mehr ein soziales als lediglich ein Ernährungsproblem. Insgesamt wechseln die «Richtig-essen-Empfehlungen» beinahe so häufig wie die Kleidermoden. Vor wenigen Jahren noch wurden Eier als eine Art tödliches Gift gehandelt, als Cholesterintreiber und Arterienverstopfer. Mitte April titelte «Die Zeit»: «Der Schurke von gestern – Das lang verteufelte Cholesterin wird in den USA rehabilitiert». Hiess es noch vor kurzem: «Fett ist fies», gibt es heute Ernährungs-Fachleute und vor allem selbsternannte Experten, die speckige Haxen für gesund halten. Paleo-Diät, essen wie die Steinzeitmenschen, steht hoch im Kurs. Wurde noch vor einem Wimpernschlag mit «Die Milch machts» geworben, zahlen moderne Käufer jetzt gerne das Doppelte, um Laktosefreies in die Einkaufstasche stecken zu können. Dass 85 Prozent der Menschen Laktose problemlos vertragen und auch die verbleibenden 15 Prozent bei einem Glas normaler Milch kaum nennenswerte Beschwerden aufweisen, stört nicht. Angst sells.
Auch «glutenfrei» ist ein Verkaufsrenner. Zwischen 2007 und 2013 stieg weltweit der Umsatz mit glutenfreien Lebensmitteln um 100 Prozent. Sinnvoll ist «glutenfrei» für 0,1 bis 1 Prozent der Bevölkerung, nämlich für diejenigen, die an Zöliakie erkrankt sind. Die Hersteller der «Frei von»-Produkte verdienen gut an beinahe täglich geschürter Unsicherheit und Hysterie. Ein Blick in die Buchhandlung genügt: «Früchtewampe – warum Obst und Gemüse dick machen» von Roy Dollée erklärt, wie alles Übel aus dem Fruchtzucker kommt. «Dumm wie Brot», die eigenartige Fibel des Amerikaners David Perlmutter, die es sogar auf die Bestsellerliste der New York Times geschafft hat, verkündet, im Weissmehl läge die Ursache von Demenz, Alzheimer und Degenerationen aller Art. Fastenbücher ohne Zahl preisen regelmässiges «Entschlacken», obwohl der menschliche Körper – anders als alte Ofenrohre – trefflich 24 Stunden täglich durch Nieren und Leber «entschlackt».
Die Verwirrung ist gross. Denn allein das Ziel «supergesund» zu erreichen, ist schon schwer. Aber nachhaltig und ökologisch soll die Ernährung doch bitte auch noch sein. Ethisch korrekt. Moralisch einwandfrei. Vielleicht wäre ja vegan etwas. Aber was ist dann mit der Ledertasche? Plastik ist aber auch nicht besser. Passt dann noch der Reitunterricht des Töchterchens zum tierlieben Leben? Oder doch nur vegetarisch? Aber wie streng? Geht Fisch? Ist ein Fisch weniger wert als ein Schwein? Fragen ohne Ende, die sich Eltern stellen. Mit Recht stellen und dadurch, dass sie gestellt werden vieles in der Lebensmittelbranche positiv verändern. Doch so richtig durchblicken tut kaum noch jemand. Es den Kindern zu erklären ist noch verzwickter.
Denn selbst «Bio», DAS Synonym für Gutes, Wahres und Schönes, ist nicht fleckenfrei. Stellte doch die Stiftung Warentest in einer achtjährigen Langzeituntersuchung fest, dass Biolebensmittel herkömmliche Lebensmittel nicht übertrafen. Ausser im Preis. Zudem ruft der Bio-Boom diverse Geschäftemacher auf den Plan, die ihre Biolebensmittel quer durch Europa karren. Was auch wieder nicht ganz so Bio ist. Genauso wie es, laut Öko-Test-Bericht, nicht zwingend gesund, ja nicht mal zwingend ökologisch ist, Fleischersatzprodukte zu essen, in denen sich oft reichlich Fett, Salz, Geschmacksverstärker und diverse andere Zusatzstoffe befinden… Das alles ist durchdenkenswert und problematisch.
Aber – wie viel Problematisieren ist noch normal? Und ist es eigentlich sinnvoll, «gesund, fit und schlank» seinem Buben oder seinem Mädchen als höchstes Gut anzudienen? Laut einer Untersuchung der Universität Zürich – im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit – gehört die Schweiz weltweit zu den Ländern, in denen am genauesten auf gesunde Lebensführung geachtet wird. Gleichzeitig sind Essstörungen bei Schweizer Kindern und Jugendlichen verbreitet. Von Bulimie, der Ess-Brech-Sucht, sind auf der ganzen Welt lediglich amerikanische Jugendliche noch häufiger betroffen als Schweizer. Auch Orthorexie, der innere Zwang sich gesund zu ernähren, greift um sich. Aus zu gesund wird dann ungesund. Es scheint, als überdecke der Drang zum allgegenwärtigen Feintuning des Körpers, ja des ganzen Lebens, langsam die Frage, was ein Leben eigentlich lebenswert macht. «Ja, das überdeckt der Gesund-Trend allerdings», findet Hanni Rützler, Autorin des Buches «Muss denn Essen Sünde sein», Wiener Ernährungswissenschaftlerin und Trendforscherin. «Ernährung ist heute entweder eine Art religiöser Glaube oder Naturwissenschaft. Beides erfasst nicht das Wesentliche.»
Möglicherweise, findet Rützler, sei es ja entscheidender, ein schönes statt ein allzeit vernünftiges Leben zu leben. «Und zu einem schönen Leben gehört unbedingt Genuss.» Das Verhältnis zu Genuss sei heute allerdings ziemlich gestört und krampfig. Sonnenschein? Schnell in den Schatten! Ein zweites Glas Wein? Wie zügellos! Schwarzer Humor? Bloss nichts politisch Inkorrektes! Sex? Okay, aber die Intimwaschlotion vorher nicht vergessen. Psychoanalytiker wittern im derzeitigen Trend zu Entsagung und Mässigung schon den parallelen Trend zu neurotischer Verdrängung aller archaischen Triebregungen. «Mehr Nonchalance» fordert dagegen Hanni Rützler. Häufiger mal fragen, was das Leben toll macht als zu fragen, was es lang macht. Kinder das zu lehren hält die Wienerin für pädagogisch wertvoller als das Vorbild einer Mutter, die sich bei jedem gegessenen Praliné in die Taille kneift und noch tagelang nachher davon faselt, was sie da «gesündigt» habe. Denn genau das Vorbild innerhalb der Familie prägt das Verhältnis des Kindes zum Essen.
Deshalb hat Ernährungsberaterin Sonja Ricke in ihrer eigenen Familie alle strengen Regeln abgeschafft und den eher spartanischen Rat der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung, ein Schulkind dürfe pro Tag höchstens 3 Petit Beurre essen, mit Schwung über den Haufen gekegelt. «Ich bin sicher, dass ein Körper, vor allem aber ein Kinderkörper, bei entsprechend breiter Auswahl, genau weiss, wann er satt ist, was er braucht und – was ihm gut tut.» Sich selbst Gutes tun zu können, Schmallippigkeit nachhaltig (!) aus dem Alltag zu verbannen und ein genussvolles, lebenswertes Leben zu führen, wären als Erziehungsziele auch mal zu durchdenken. Wenn man das Durchdenken denn partout nicht lassen kann.
Buchtipp:
Hanni Rützler: «Muss denn Essen Sünde sein?», Brandstätter, 28.90 Franken