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Nie wieder Schule!?

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Einer der Vorteile davon, gelegentlich für Schweizer Zeitungen zu schreiben, ist der regelmässige Blick über den Tellerrand. Während in Deutschland Schulpflicht und die allgemeine Vorstellung herrscht, der gemeinsame Schulbesuch sei ein unumgänglicher Integrationsfaktor, haben die meisten Schweizer Kantone zum Beispiel eine Bildungspflicht. Ich bin da zwiegespalten. Auf der einen Seite habe ich mit der staatlichen Betreuung und Beschulung meiner Kinder gute Erfahrungen gemacht. Ich würde mein viertes Kind selbst dann mit einem Jahr in die Kita geben, wenn ich überraschenderweise plötzlich unfassbar viel Zeit zur Betreuung hätte. Und zwar weil ich der Überzeugung bin, dass ich bestimmte gruppendynamische Elemente gar nicht leisten kann. Den Morgenkreis, das gemeinschaftliche Essen, die ständigen Aushandlungsprozesse unter Gleichaltrigen. Selbst bei Konflikten und Problemen (Rocktragen und so) schien mir das immer ein gute Entscheidung zu sein.
Auf der anderen Seite komme ich aus einem untergegangenen Land namens DDR, wo alles wenn nicht zwangsverpflichtend dann zumindest vereinnahmend war: Schulpflicht, Zwangsimpfung, tritt gefälligst den Pionieren bei. Mach mit, oder sonst!
Da ging es noch nicht einmal um die Frage, wieviel Subversivität eine Gesellschaft ertragen kann, sondern wieviel Individualität sie auszuhalten bereit ist. Ich hege also auch grosse Sympathien für Menschen und Entscheidungen, die nicht so stromlinienförmig daher kommen (again with the Rocktragen). Zumal gerade Schulpflicht in viel zu vielen Fällen nicht etwa Unterrichtstoff und soziale Kompetenz vermittelt, sondern Kinder und Jugendliche in die tägliche Zwangslage versetzt, sich über jedes erträgliche Mass hinaus drangsalieren und demütigen lassen zu müssen. Inwiefern es eine Vorbereitung aufs spätere Leben sein soll, schon vor dem Erwachsenenalter psychische und physische Niederschläge zu erfahren, von denen man sich nicht mehr erholt, hat sich mir nie erschlossen. Was soll daran erstrebenswert sein?
Und so lese und sehe ich interessiert Berichte über Familien, die sich der Schule verweigern, dafür sogar auswandern oder in der Illegalität leben und frage mich, ob es dafür nicht bessere Optionen geben müsste. Eine Zivilgesellschaft, die über Vereine, Begegnungsstätten und regelmässige Wissensstandkontrollen in der Lage ist zu integrieren, statt ausnahmslos mit Zwang zu verordnen.
Was meint ihr?
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.