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Wenn Enkels Stimme nicht zählt
Martin Moser
Ich sitze mit Lio am Tisch. Ein Stapel weisses Papier vor uns. Wir wollen zeichnen: einen Baum, ein Haus, ein Auto. Ich zeichne kurz vor, er zeichnet nach. Dann umgekehrt: Er gibt vor, ich ziehe nach. Und plötzlich: «Ich will meinen Namen schreiben». Also schauen wir uns die Buchstaben an: L und I und O kann er schnell. N und E fehlen noch. Auch bei denen geht’s rassig. Und schon schreibt er LIONEL. Ich staune immer wieder, wie schnell Kinder lernen. Dabei kommt Lio im Sommer erst in den Kindergarten.
Und dann schneit es mir mit der Sonntagspresse den Titel «Überreif für die Schule» ins Haus. Der Artikel besagt, dass jedes dritte Kind schon vor der Einschulung lesen und schreiben kann. Na und? denke ich. Doch dann kommt es knüppeldick: Schuld sind die Kindergärten und die drängenden Eltern, die unbedingt wollen, dass ihr Kind Frühchinesisch lernt usw. Das sagen die zitierten Professorinnen und Professoren.
Schwachsinn.
Frühförderwahn, wie das eine der zitierten Fachpersonen nennt, finde ich eine absolute Frechheit gegenüber den Kindern und ihrem Drang, die Welt in sich einzusaugen. Klar gibt es Eltern, die pushen ihr Kind bis zum Geht-nicht-mehr. Aber meine Erfahrung mit meinen Enkeln ist: Die wollen. Die wollen lesen. Die wollen schreiben. Die wollen die Zahlen lernen. Einfach gesagt: Sie sind motiviert. Weder seine Eltern noch Omi oder Opi haben Lio je gesagt, er müsse jetzt seinen Namen schreiben. Er will es und er tut es.
Die pädagogische Fachwelt soll sich doch lieber darum kümmern, wie man diese grosse Eigenmotivation der Kinder in die Schule hinüber retten und da nutzen kann, als nach komischen Gründen zu suchen, warum Kinder früher schreiben lernen. Denn die Erklärung ist einfach: Da prasseln Millionen Mal mehr Inputs auf die kleinen Hirne ein als zu meiner Jugendzeit. Die kleinen Hirne verarbeiten diese problemlos und schmieden daraus die natürliche Neugier, den Lernwillen. Und meine Erfahrung, zum Beispiel mit meinen heute erwachsenen Kindern, bringt mich zur Überzeugung, dass die Schule das eher bremst als fördert.
Lio jedenfalls schreibt inzwischen seinen Namen. Und noch mehr: Am letzten Abstimmungssonntag, als es um die Durchsetzungsinitiative ging, sass er neben seinen Eltern am Küchentisch. Er schaute zu und wollte dann auch seinen Bürgerpflichten nachkommen, obwohl er das noch lange nicht darf. Geschrieben hat er trotzdem, wie das Bild zeigt. Auch wenn seine Stimme noch nichts zählt.
Martin Moser (1959), Produktionschef Tageszeitungen der AZ Medien, ist seit 30 Jahren verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. Er hat zwei Enkel (Lionel, 2011, und Enyo, 2014) und legt auch mal einen Opi-Tag ein. Bloggt für «wir eltern» über Opi-Kinder-Enkel-Erlebnisse und -Beziehungen und kramt auch mal in seinen eigenen Erinnerungen.