Blog
Unbewegliche, faule Kinder

istockphoto

zvg
Lust auf mehr? Folgen Sie «wir eltern» auf Facebook!
Ich musste mich ja schon einen Moment lang festhalten, während ich die Nachricht las: «Nur noch die Hälfte der Kinder kann den Purzelbaum.» Also an meinem Sofa festhalten. Während ich gemütlich einen riesigen Latte Macchiato trank und die neuesten Nachrichten auf meinem Smartphone checkte. Kinder sind heutzutage also unbeweglicher als früher und gehen nicht mehr so oft raus. Hätte man auch nicht ahnen können. Ist ja nicht so, dass von Kindern heutzutage immer mehr soziale Kompetenzen, Vernetzung, berufsrelevante Entscheidung, technische Fertigkeiten und Social Media Skills verlangt werden. Oder etwa doch? Werden Eltern etwa mit der Drohung, man würde seinem Kind sonst elementare Dinge vorenthalten, in eine Frühförderungsspirale reingequatscht? Und sind das nicht meistens Eltern, die selber kein Purzelbaum mehr schaffen und bei durchgestreckten Knien mit den Fingerspitzen kaum die Zehen erreichen?
Kann man so sagen. Man kann auch feststellen, dass wir es aus sentimentalen Gründen gerne sähen, wenn unser Nachwuchs die Glorie unserer eigenen Kindheit für uns anschaulich noch einmal erlebt. Mensch, was haben wir früher nicht alles gemacht. Stundenlang im Regen gespielt, weil wir ja nicht aus Zucker waren. Ganze Ferien haben wir damit verbracht, mit Stöcken im Wald auf Kleintiere einzuprügeln, den Linoleumfussboden im Gartenhäuschen anzukokeln oder in Grüppchen den Erwachsenen hinterher zu spionieren, weil einfach sonst nichts passiert ist. War ne super Zeit. Sollten Kinder heute auch so machen. Natürlich ohne «die anderen Dinge» zu vernachlässigen. Die anderen Dinge, das sind die Kompetenzen, die sie heute vorgeblich oder tatsächlich benötigen, um sich in Gegenwart und Zukunft behaupten zu können. «Digital Native» sein zum Beispiel. Mit multifokalen Kernkompetenzen, einem Arsenal an Soft Skills und überhaupt High End Social Performance. Dass sich diese Dinge womöglich ausschliessen, scheint sich als Idee noch nicht durchgesetzt zu haben. Auch nicht die Vorstellung, dass unsere Kinder ihre eigenen Wege gehen und Bewertungen vornehmen. Kann ja sein, dass Purzelbäume inzwischen uncool sind, aber die ach so unbeweglichen Kinder bald auf der Suche nach Pokémon Go durch die Augmented Reality hetzen. Und wäre das wirklich so viel schlechter als mit Ästen in Ameisenhaufen zu stechen?
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.