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Die Ernte des Geschreis

Flyer bei: http://www.diewiege-sulz.de/?q=Staerkewut / Bilder-Quelle: © Renate Alf / www.renatealf.de
Erklären wirkt langfristig besser als schimpfen. Das hab ich neulich
hier gelesen. Klingt einleuchtend, und die Erfahrung der 102 in der Studie zitierten Eltern deckt sich mit meinen doch auch schon jahrelangen Erfahrungen. Aber einfach ist das nicht immer.
Jüngst zum Beispiel: Omi geht mit Lio einkaufen ins mittelgrosse Einkaufszentrum in der Stadt. Ich hüte derweil den kleinen Enyo. Der Kleine ist in Sachen schreien noch pflegeleichter: Wenn er sich äussert - und schreien ist ja derzeit noch seine einzige Verlautbarungsform -, dann hat er entweder Hunger, Durst, oder die Windeln voll oder es tut ihm was weh. Bei Lio ist es schon wesentlicher komplizierter. Der trotzt, wenn er schreit.
Wie eben im Einkaufszentrum. Nach der Shoppingtour, will er unbedingt noch ins Restaurant. Nicht ungewöhnlich. Das haben wir schon öfter gemacht. Also setzen sich die beiden da an einen Tisch. Lang allerdings sitzt Lio nicht ruhig. Schon macht er sich auf den Weg, das Lokal zu erkunden. Und entdeckt dabei die Küche. Die ist natürlich interessant und eine Entdeckungstour wert. Aber das darf er ja nicht. Also erklärt Omi ihm das. Hilft aber nichts. Er will unbedingt. Und beginnt zu schreien. Natürlich. Sein Wille ist grad das Mass aller seiner Dinge. Alles erklären hilft nichts. Er wird lauter und lauter.
Natürlich drehen sich die Köpfe. Alles schaut was da abgeht. Ist ja klar. Und das wird Omi immer peinlicher. Wär es mir auch. Da wird es ihr zu bunt, sie lässt ihn einfach stehen, setzt sich auf eine Bank in Sichtweite und lässt ihn schreien. Und wartet, wartet, wartet... Lio schaut zwar ab und an, aber schreit weiter. Und schon fragen Leute, ob man helfen kann und was denn los sei, ob ihm was fehle usw. Schliesslich nach ein paar Minuten hat er sich beruhigt und kommt ganz zahm angelaufen. Und alles ist bestens - oder doch nicht?
Nun, ich kenne die Geschichte, weil Omi sie mir danach erzählt hat. Und wie ich die Taschen mit den Einkäufen in die Wohnung tragen will, sitzt Lio immer noch in seinem Kindersitz im Auto. Er will partout nicht raus. Trotzt er schon wieder? Ich frag ihn, warum er nicht mitkommen will. Er ziert sich erst, dann aber erzählt er mir die Geschichte aus seiner Sicht. Dass er im Einkaufszentrum nicht so brav war und rum geschrien hat usw.
«Aber das ist jetzt doch vorbei», sag ich. «Jetzt können wir ja rein gehen.»
«Nein», sagt er, er habe etwas Angst.
«Wovor denn?» frage ich.
«Ich glaube, Omi ist böse auf mich», erklärt er.
Ich muss lächeln und sag: «Komm mit, wir fragen sie.»
Da erst löst er seinen Gurt und steigt aus. Natürlich ist Omi nicht mehr sauer.
Erklären, dass etwas nicht geht, war in diesem Fall zwar kurzfristig die peinlichere Option - angesichts der vielen Leute, die da zugeschaut und zugehört haben. Aber bereits mittelfristig hat sie bewirkt, dass Lio über sein Tun nachgedacht und sich überlegt hat, was die Konsequenzen daraus sein könnten. Das ist allemal eine gute Ernte aus einem Geschrei von fünf Minuten.

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Martin Moser (1959), Produktionschef Tageszeitungen der AZ Medien, ist seit 30 Jahren verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. Er hat zwei Enkel (Lionel, 2011, und Enyo, 2014) und legt auch mal einen Opi-Tag ein. Bloggt für «wir eltern» über Opi-Kinder-Enkel-Erlebnisse und -Beziehungen und kramt auch mal in seinen eigenen Erinnerungen.