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Eine Rute für die Bescherung

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«Heute kommt der Samichlaus.» Das klingt mir noch in den Ohren. Und ich weiss noch: er hat mir damals Furcht eingejagt. Denn nie wusste ich als Kind, ob er nun streng auoritär ist und für mich aus seinem grossen Sack jetzt eine Rute zieht – oder doch den obligaten Chlaussack mit Nüssen, Schoggi, Mandarinen usw. Natürlich war es nie die Rute, sondern immer der Sack. Obwohl er immer über meine Ungepflogenheiten zu berichten und zu mahnen wusste, Geschenke gab es immer.
Wie ist das bei meinen Enkeln? Mit der Rute gedroht wird eigentlich nicht mehr. Er scheint ein lieber Mann zu sein, der zwar auch gelegentlich noch die kleinen Unfolgsamkeiten mahnt, aber ansonsten nur Geschenke aus seinem Sack zieht. Dennoch: «Für Kinder ist der Samichlaus heute Teil einer magischen Sphäre, in der auch Hexen, Kobolde und Mystery-Figuren leben», sagt der Zürcher Forscher Mischa Gallati [hier] (http://www.landbote.ch/winterthur/standard/der-samichlaus-ist-freundlicher-geworden/story/10782817
"http://www.landbote.ch/winterthur/standard/der-samichlaus-ist-freundlicher-geworden/story/10782817"). Seinen Reiz hat er also nicht ganz verloren. Denn er ist «als ambivalente Figur, die Gut und Böse gleichzeitig verkörpert, einfach anziehend».
Manchmal nehmen vor allem ältere Kinder den jüngeren den Reiz. Etwas bei meinen Kindern damals, als ein Nachbarjunge den Samichlaus als Vater eines andern Kollegen entlarvte und das den Jüngeren natürlich kundtat. Da war dann der ganze Reiz dahin. Aber Geheimnisse aufzudecken, ist halt der Reiz der Älteren.
Ich als Opi werde meinen Enkeln diese Magie sicher nicht nehmen. Sie sollen ruhig noch etwas Respekt vor dem mächtigen weissen Bart haben. Mit Lio übe ich schon mal fleissig ein Verslein, damit er auch was zu sagen weiss, wenn der Chlaus an seine Tür klopft. Jüngst allerdings sagte ein [Samichlaus in Solothurn] (http://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/stadt-solothurn/santi-niggi-naeggi-und-gluehwein-schlangestehen-am-chlausemaeret-129782502
"http://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/stadt-solothurn/santi-niggi-naeggi-und-gluehwein-schlangestehen-am-chlausemaeret-129782502"): «Es werden weniger Versli gelernt als noch vor elf Jahren, als wir angefangen haben.»
Wenn ich dann allerdings bei meiner Recherche nach geeigneten Versen auf so was wie das hier stosse:
«Nikolaus sei unser Gast,
wenn Du was im Säckli hast,
hast Du was, so lass Dich nieder,
hast Du nichts verschwinde wieder.»
dann runzel ich die Stirn. Den Chlaus nur auf seine Geschenke zu reduzieren – ohne braucht er gar nicht erst aufzutauchen -, kann ja wohl nicht alles sein. Ich möchte meinen Enkeln noch ein bisschen mehr vermitteln als den Haufen an Geschenken: Respekt vor Traditionen zum Beispiel und das Wissen um sie.
Leider ist der Samichlaus nicht allein. Heute geht es mit allen traditionellen Festen so: Der alte Sinn geht verloren und wird ersetzt durch viel Geschenkpapier. Schöne Bescherung.
Martin Moser (1959), Produktionschef Tageszeitungen der AZ Medien, ist seit 30 Jahren verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. Er hat zwei Enkel (Lionel, 2011, und Enyo, 2014) und legt auch mal einen Opi-Tag ein. Bloggt für «wir eltern» über Opi-Kinder-Enkel-Erlebnisse und -Beziehungen und kramt auch mal in seinen eigenen Erinnerungen.