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Kinder als Raucher

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Ich halte die Schweizer ja grundsätzlich für ein ziemlich cleveres Volk. Gut, ihr macht schon auch mal Sachen, die ich einfach nicht nachvollziehen kann. Politisch zum Beispiel. Waffengesetze, spätes Frauenstimmrecht und solche Sachen. Aber ihr habt Sibylle Berg. Ihr habt viel früher als wir begriffen, dass Stress ohne Grund ziemlich inhaltsleer ist. Und ihr habt Leute, die sich Gedanken darüber gemacht haben, dass es doch an einem Vätertag schön wäre, Familie und Verantwortung zu feiern, anstatt einen peinlichen Anlass zum nächsten Vollrausch herbeizufaseln.
Umso seltsamer, dass ihr tatsächlich eine Festivität habt, bei der ihr Kinder vorgeblich aus Traditionsgründen rauchen lasst. Während der Viehschauen in Appenzell (und gerüchteweise auch andernorts) sieht man bereits Sechsjährige, die sich mit offizieller Genehmigung [eine Zigarette, Pfeife oder ähnliches anstecken]
(http://www.20min.ch/schweiz/ostschweiz/story/An-der-Viehschau-rauchen-schon-die-6-Jaehrigen-28160032 "20min.ch/schweiz/ostschweiz/story/An-der-Viehschau-rauchen-schon-die-6-Jaehrigen-28160032").
Das könnte man jetzt als befreienden Aufstand gegen die allgegenwärtige Sittenüberwachung feiern. Gegen die Idee von verpflichtenden Veggie-Days und gegen die Leute, die einem verbieten wollen, dass man ethnische Gruppen nicht mehr so nennen darf wie Oma und Opa es schon gemacht haben – und am Ende des Tages weiss man dann nicht mehr, wie man zu diesem Schnitzel sagen soll. Immerhin dürfen sie es nur da. Wahrscheinlich finden sie es so eklig, dass sie danach nie wieder rauchen. In anderen Teilen der Welt brechen sich Menschen die Beine, weil sie einem Käselaib nachrennen, oder werden aufgespiesst, weil sie vor Stieren davon laufen. Da ist es doch wohl besser, ausnahmsweise mal zu rauchen. Wir haben doch früher auch so Sachen gemacht, Mensch, was haben wir nicht, Teufel noch eins, das waren noch Kindheiten.
Ausserdem dürfen die Kinder zu diesen Gelegenheiten ja nur rauchen, weil sie 1802, als die Eltern ihren Stecklikrieg zu verlieren drohten, selbst zu den Knüppeln griffen, dem Kampf die Wende brachten und anschliessend genau das eben taten. Auf dem Schlachtfeld mit den Grossen paffen. Das Dumme ist nur, dass ich mir das nur ausgedacht habe. Tatsächlich rauchen die Kinder in Appenzell einfach nur so. Weil der Papa das auch schon so gemacht hat. Warum? Darum! Wie, darum? DARUM!
Und selbst wenn es tatsächlich nicht nur eine stumpfe «Früher schon» Tautologie, sondern eine Tradition im Sinne von Geschichtsbewahrung wäre: Eine traditionelle Gesundheitsgefährdung von Kindern ist immer noch ein Gesundheitsgefährdung von Kindern. Wir lassen unsere Kinder 2018 auch nicht ein paar Tage an Quecksilber lecken, nur weil Fahrenheit 1718 das entsprechende Thermometer erfunden hat. Irgendwo muss auch mal Schluss sein. Wo? Unter anderem bei «Gebt den Kindern was zu rauchen»!

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Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.