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Sag mal Leistungsgesellschaft!

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Unsere Kleine ist mittlerweile ein Jahr alt. Oder 12 Monate für die, die lieber in Monaten denken. Sie kann: krabbeln, sitzen, etwas brabbeln, gut ein paar Minuten für sich alleine spielen und auf den Beinen stehen, wenn man sie an den Armen hält. Sie kann nicht: über Türschwellen kriechen, alleine einschlafen, Mama oder Papa sagen, sich für Brei begeistern, sich aufrichten oder laufen. Sie ist noch ein richtiges Baby und bisher fand ich das wunderbar. Bis ich eines schicksalsträchtigen Tages einem anderen Baby und dessen Mutter begegnete. Das Kind stampfte herum und brabbelte, dass es eine Freude war. Es nahm sein Spielzeug-Eimerchen, watschelte zum Brunnen, füllte es mit Wasser, rief etwas, das in seiner Sprache womöglich «frisches, klares Wasser, hier frisches, klares Wasser zum Aktionspreis!» bedeutete, stolperte zurück und verschüttete dabei das ganze Wasser. Ich war begeistert. Und freute mich darauf, dass meine Tochter auch bald Wasser-verkaufen spielen würde. Das Kind sei doch sicher schon 18 Monate alt, wollte ich mich bei der Mutter versichern. Nichts da, zwölf Monate, gleich alt wie meines. Verblüffung meinerseits. Eines zweiten schicksalsträchtigen Tages dann eine ähnliche Geschichte: Winziger Bengel johlt herum, torkelt, fällt hin, steht blitzschnell wieder auf, johlt weiter. Bestimmt älter als unser Kind, nicht wahr? Wieder Fehlanzeige, 11 Monate. Die Mutter setzte sogar noch eines drauf: «Seid nur froh, ist sie noch nicht so weit.» Man renne ihnen dann ja nur noch hinterher. Na besten Dank für diesen Alibi-Trost.
Von Ärzten und Ratgebern weiss ich, dass Kleinkinder unterschiedlicher kaum sein können und jedes seinen eigenen Rhythmus hat. Ich weiss auch, dass das völlig normal ist und kein Grund zur Beunruhigung. Mir war auch immer klar, dass meine Tochter es gemächlich angeht: Zwar waren rasch erste Zähne da, doch bis sie einmal krabbelte, dauerte es lange. Eine Sache (ich sage absichtlich nicht Problem, weil es nämlich keines ist) wurde erst daraus, als ich diese Babys im gleichen Alter sah und sie mit meinem Kind verglich. Und das hat mich ehrlich gesagt selbst etwas erschreckt. Denn der erste Reflex war: Schnell heim und das Kind fördern! Kann ja nicht sein, dass sie so hinterher hinkt. Ich will auch, dass sie läuft. Ich will auch, dass sie brabbelt. In einem inneren Monolog musste ich erst behutsam auf mich einreden, ehe ich mich besann. Immer mit der Ruhe, sagte ich mir, es hat noch fast jedes Kind, das körperlich dazu fähig ist, laufen und brabbeln gelernt. Keine Hektik, der Leistungsdruck kommt noch früh genug. Ich werde ihr Zeit lassen, keine Frage. Insgesamt war das dennoch eine sehr seltsame Erfahrung. Eine Erfahrung, die ich rein therapeutisch damit begründe, dass ich die Zeit, in der meine Tochter läuft und spricht, kaum erwarten kann.
Epilog: Vor wenigen Tagen hat sich meine Tochter aus eigenem Antrieb am Couchtisch aufgerichtet. Alle Beteiligten und Beobachter haben gejauchzt.

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Reto Hunziker ist 1981 im Aargau geboren, aber das muss noch nichts heissen. Er hat Publizistik, Filmwissenschaft und Philosophie studiert und auch das muss noch nichts heissen. Er arbeitet als freier Journalist und als Erwachsenenbildner und versucht daneben, dem ganz normalen Wahnsinn in einer Patchwork-Familie (Frau, Tochter und Stiefsohn) mit Leichtigkeit und gesundem Menschenverstand zu begegnen – das will was heissen. Alle Blog-Beiträge von Reto Hunziker finden Sie hier.