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Holocaust für Kinder

Panini Comics
Seit ich mit meinem Achtjährigen seine Vorliebe für Graphic Novels entdeckt habe, ist er wie elektrisiert. Gelesen hat er zwar schon länger gerne, aber es ist die Verbindung mit der grafischen Umsetzung des Textes, die dafür sorgt, dass er ein Buch nach dem anderen verschlingt. Und in dieser literarischen Form scheint er auch mühelos jedem Thema gewachsen zu sein. Ob es nun das Berlin der Weimarer Republik bei Kästners «Emil und die Detektive» oder die grimmige Rachsucht eines Kapitän Ahab in «Moby Dick» ist: Das alles macht für ihn in der Verbindung von Bild und Text Sinn. Deshalb schien es mir naheliegend, in diesem Medium nach einem Thema zu suchen, welches ihn schon lange interessiert: Den Holocaust. Er will wissen, wie das möglich war. Er möchte verstehen, warum Menschen das getan haben und oder warum sie später von nichts gewusst haben wollen. Obwohl sie doch Täter waren. Obwohl sie sich darüber beschwert haben, dass die Züge für den «Abtransport von Geschäftsreisenden», wie Joseph Göbbels es nannte, mitten durch deutsche Städte fuhren. Und tatsächlich gibt es so ein Buch.
Die Graphic Novel «Das versteckte Kind» versucht das Unmögliche. Sie erzählt eine Geschichte, die eigentlich nie hätte passieren dürfen. Am Beispiel eines kleinen Mädchens zeigt sie konsequent aus kindlicher Perspektive wie das Grauen in die damalige Welt einbricht. Wie der Vater noch versucht für die Tochter den stigmatisierenden Judenstern zum Sheriffstern umzudeuten. Wie sich selbst die Freundin abwendet. Wie Unrecht, Terror und Gewalt jeden Tag stärker werden. Es berichtet vom Tod geliebter Menschen. Und am Ende sogar vom Überleben.
Muss mein Junge das alles wissen? Sollte ich ihm das wirklich zumuten? Gibt es dafür nicht einen besseren Zeitpunkt als jetzt? Mal nachdenken: Jetzt, das ist ein vorweihnachtliches Deutschland, in dem über 1 Million Flüchtlinge auf ein besseres Leben hoffen. Viele Menschen unterstützen sie dabei. Andere zünden die Unterkünfte an, die sie beherbergen sollten, und geben sich gewaltbereit. Jetzt, das ist der Zeitpunkt, zu dem ein deutscher Sänger davon faselt, dass Moslems den neuen Judenstern trügen. Jetzt, das ist der Moment, an dem mein Sohn für dieses Thema Interesse aufbringt.
Angesichts der Tatsache, dass die Alternative – wie das Vorwort der Graphic Novel festhält – «Schweigen und Vergessen» wäre, scheint mir eine Gegenfrage angebracht:
Wann, wenn nicht jetzt?
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.