Einige Kinderärzte empfehlen, ein zu kurzes Zungenbändchen zu schneiden, andere raten davon ab. Das verwirrt.
Die Frage, ob ein zu kurzes Zungenbändchen ignoriert oder geschnitten werden sollte, ist unter Ärzten umstritten. Manche vertreten die These, dass es routinemässig gleich nach der Diagnose durchtrennt werden sollte. Andere tendieren dazu, abzuwarten und nur zu handeln, falls es damit Probleme gibt. Die Entscheidung darüber liegt deshalb letztlich bei den Eltern.
Als Zungenbändchen bezeichnen Mediziner das Häutchen, das die Zunge mit dem Gaumen verbindet. Ist dieses zu kurz, ist die Zunge in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Das führt vor allem bei gestillten Babys nicht selten zu Schwierigkeiten. Eine Studie der Universität Cincinnati ergab, dass jedes 7. Baby mit Stillproblemen ein zu kurzes Zungenbändchen hatte. Damit die Milch richtig fliesst, müssen die Kinder eine schlängelnde Bewegung mit der Zunge machen und Brustwarze und Brustwarzenhof gegen den Gaumen drücken. Das fällt Säuglingen mit einem verkürzten Zungenbändchen logischerweise schwerer als anderen Kindern, manchen so schwer, dass sie nicht genug Milch bekommen. Einige kauen zudem so lange auf der Brustwarze, bis diese wund wird. In diesen Fällen, so sind sich Ärzte einig, sollte das Zungenbändchen geschnitten werden.
Doch viele Kinder trinken trotz verkürztem Zungenband problemlos von der Brust. Babys, die von Anfang an die Flasche bekommen, haben damit ebenfalls keine Probleme, weil das Trinken aus dem Schoppen eine andere Technik verlangt. Warum also sollte man es schneiden? «Weil es damit auch Jahre später Probleme geben kann», sagt Claudine Gysin, leitende Ärztin der Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätskinderspital Zürich, «und der Eingriff nur im Säuglingsalter kurz und schmerzlos ist.»
Je früher desto schmerzloser
In den ersten 6 Wochen nach der Geburt ist das Häutchen noch so dünn, dass es mit einem einzigen Schnitt durchtrennt werden kann. Eine Narkose ist nicht nötig, und die meisten Babys trinken 5 Minuten später von der Brust, als ob nie etwas gewesen wäre. Bei Kleinkindern dauert dieselbe Operation rund eine Viertelstunde und ist nur in Narkose möglich. Bei Kindern ab 10 Jahren und Erwachsenen wird sie meistens mit einer Lokalanästhesie vorgenommen. Claudine Gysin plädiert aber auch aus einem anderen Grund fürs Schneiden.
In einer Studie wurde das Zungenbändchen bei einigen Säuglingen durchgetrennt, bei anderen nicht. Die Mütter wussten nicht, in welche Gruppe ihr Kind eingeteilt worden war. Dennoch sagten die Frauen, deren Baby operiert worden war, übereinstimmend, dass ihnen das Stillen jetzt weniger Schmerzen bereite. Bei grösseren Kindern kann die eingeschränkte Beweglichkeit der Zunge zu Sprachfehlern führen, doch der grossen Mehrheit gelingt es, die Motorik dem verkürzten Zungenband anzupassen.
Claudine Gysin operiert pro Jahr etwa 10 Buben und Mädchen, was angesichts von 10 Prozent betroffenen Kindern eine erstaunlich kleine Zahl ist. Im Erwachsenenalter gibt es damit – ausser beim Küssen oder Zähneputzen – keine nennenswerten Einschränkungen.