@Iris Krebs
Monatsgespräch
Eine Frage der Herkunft
Von Lukas Tschopp
Bei der Frage, wer es ans Gymnasium schafft, spielt der Grips nur eine Nebenrolle, sagt die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm. Viel wichtiger sei der soziale Hintergrund. Haben die Eltern studiert, tun dies 80 Prozent der Kinder ebenso. Aus Arbeiterfamilien schafft es hingegen nur jedes vierte Kind ans Gymnasium.
Margrit Stamm, was war der Anlass dafür, dass Sie ein Buch über Bildungsaufstiege von Arbeiterkindern geschrieben haben?
Da gibt es verschiedene Gründe. In der Vergangenheit habe ich viel über begabte junge Menschen mit Migrationshintergrund und deren Bildungswege geforscht. Daneben gibt es auch intelligente einheimische Kinder aus einfachen Verhältnissen, die in der Schule Schwierigkeiten haben. Diese Kinder gehen oft vergessen, gehören aber unbedingt auf den Radar. Dann war da meine Lektüre des Buches «Rückkehr nach Reims» des französischen Soziologen Didier Eribon. Dieses Buch hat mir die Augen geöffnet, für gesellschaftliche, strukturelle Probleme, mit denen sich Menschen aus einfachen Verhältnissen tagtäglich herumschlagen müssen. Auch an unseren Schulen. Schliesslich bin ich selbst in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen. Die eigene Betroffenheit ist sicher ein wichtiges Motiv.
Wie definieren Sie die Gruppe der «Arbeiterkinder»?
Die Eltern von sogenannten «Arbeiterkindern» haben höchstens eine Berufslehre abgeschlossen, ohne je eine Weiterbildung angehängt zu haben. In die Gruppe der Arbeiterkinder gehören aber auch Kinder von Eltern ganz ohne Lehrabschluss. Eltern, die arbeitslos sind oder IV beziehen. Deren Kinder sehen sich in unserem scheinbar so chancengerechten Bildungssystem mit grossen Hindernissen konfrontiert.
Worin bestehen diese Hindernisse? Warum spielt die soziale Herkunft in der Bildung eine so wichtige Rolle?
Viele Leute glauben immer noch, dass Bildung eine Frage von Intelligenz, Fleiss und Anstrengung ist. Wer sich ernsthaft darum bemühe, schaffe es schon «nach oben», ans Gymnasium. Und wer es nicht schafft, ist halt selbst schuld. Soweit der Mythos. Die Wissenschaft hingegen hat aufgezeigt, dass in Bildungsfragen die soziale Herkunft die viel wichtigere Rolle spielt. Haben die Eltern studiert, tun dies 80 Prozent der Kinder ebenso. Aus Arbeiterfamilien schafft es hingegen nur jedes vierte Kind ans Gymnasium. Es gibt viele wissenschaftlich verbürgte Parameter, die das erklären: Die elterliche Unterstützung bei den Hausaufgaben zum Beispiel, die externe Lernunterstützung, das selbstbewusstere Auftreten höher gebildeter Eltern, aber auch deren Affinität, bei ungenügenden Leistungen ihrer Schützlinge sogleich Beschwerde einzureichen. Die PISAStudien der OECD verwenden für die Etikettierung, wie «bildungsnah» oder «bildungsfern» ein Kind aufwächst, vier Kriterien: die Anzahl Meter an Büchern einer Familie, die räumliche Ausstattung (etwa die Grösse der Kinderzimmer), die Ausbildung der Eltern sowie das Bildungskapital der Familie (Besuch von Bibliotheken, Museen oder Konzerten). Diese Kriterien verweisen auf das Habitus-Konzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Der Habitus kommt dabei der sozialen Position eines Kindes gleich: Hat es einen differenzierten Wortschatz, einen auserlesenen Freundeskreis oder Hobbys, die viel Geld kosten, sind ihm schulische Vorteile gewiss.
Wie wirken sich diese Vorteile in der Schule denn aus?
Sozial vorteilhaft positionierte Kinder haben es in der Schule leichter. Nicht etwa, weil die Lehrkräfte parteiisch sind. Sondern wegen des sogenannten «Mittelschicht-Bias». Wegen des unterschwellig wirkenden Phänomens, wonach sich die Erwartungen der Schule wie selbstverständlich am Ideal «bildungsnaher» Familien der Mittelschicht orientieren. Weil auch das Lehrpersonal mehrheitlich der Mittelschicht entstammt, bleibt die pädagogische Alltagsarbeit oft in diesem Denken haften. Kinder haben «von Natur aus» kreativ, neugierig und aufgeweckt zu sein. Sie sollten «von Haus aus» wissen, wie man sich anständig benimmt. Wer dieser Norm (noch) nicht entspricht, ist in der Schule automatisch im Nachteil.
Welche Rolle spielen hierbei Familie und Elternhaus?
Die Eltern von Arbeiterkindern interessieren sich oft weniger für die Schule, weil sie selbst nur kurze Zeit in dieser Institution verbracht haben. Ihre persönliche Schulzeit haben sie nicht unbedingt in guter Erinnerung, weil sie vielleicht negativ sanktioniert, oder mit anderweitigen Problemen konfrontiert wurden. Solche Eltern entwickeln mitunter eine Abneigung gegen die Institution Schule. Im Sinne von: «Wer ans Gymnasium geht, weiss nicht, was richtiges Arbeiten ist.» Solche Eltern sind am schulischen Aufstieg ihres Nachwuchses gar nicht interessiert. Sie geben sich damit zufrieden, dass ihre Kinder ebenfalls eine Lehre machen. So verdienen sie rasch ihr eigenes Geld. Diese Grundskepsis betroffener Eltern gilt es zu verstehen und in die wissenschaftliche Reflexion miteinzubeziehen. Akademikereltern wiederum haben viel Zeit an Schulen und Hochschulen verbracht. Sie kennen die Regeln, nach denen dort gespielt wird und sind darum besser imstande, ihre Kinder in dieses «Spiel» einzuführen.
Erfolg wird in der Schule also weniger erarbeitet als familiär vererbt. Warum ist das ein Problem? Man kann ja sagen, dass in einer Gesellschaft eben nicht alle alles haben und machen können.
Natürlich geht es nicht darum, dass möglichst alle Kinder ans Gymnasium gehen. Ich will den gut situierten Eltern auch nicht verbieten, ihre Kinder zu fördern. In einer freien Demokratie ist das ihr gutes Recht. Es geht einfach darum, dass einzig die Neigungen und Fähigkeiten der Kinder über deren schulische Laufbahnen entscheiden soll – und nicht ihre unverschuldete soziale Herkunft. Es gibt viele Arbeiterkinder, die das Potenzial mitbringen, an einer Universität zu studieren. Diese Option bleibt ihnen aufgrund ihrer Herkunft aber versagt. Umgekehrt gibt es übrigens auch viele Kinder aus Akademikerfamilien, die zwar mit Ach und Krach die Maturität erlangen, sich in einem handwerklichen Beruf aber besser entfalten könnten. Es geht darum, strukturelle Hürden abzubauen, damit nicht die soziale Herkunft, sondern Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten über den eigenen Werdegang entscheiden.
Margrit Stamm, Erziehungswissenschafterin
Das Phänomen wirkt also auch umgekehrt? Braucht es mehr Akademikerkinder in der Berufslehre?
Unbedingt. Idealerweise müssten mehr Arbeiterkinder ans Gymnasium und mehr Akademikerkinder in die Berufslehre. In akademischen Kreisen wird die Berufslehre oft als zweite Garnitur abgetan. Eltern, die selbst studiert haben, müssen innerhalb ihrer «Bubble» ziemlich viel Selbstvertrauen aufbringen, wenn ihre Kinder lieber Köchin oder Schreiner lernen wollen, statt an der Uni zu studieren. Die akademische Bildung ist nach wie vor ein Statussymbol unserer Gesellschaft.
In Ihrem Buch erzählen Sie Geschichten von Arbeiterkindern, die es trotzdem ans Gymnasium geschafft haben. Was steckt hinter solchen Erfolgsgeschichten?
Für die Befragten war das primär eine Eigenleistung. Auf die Frage, wie sie es vom Arbeiterhaushalt ans Gymnasium geschafft haben, antworteten sie zumeist mit Persönlichkeitsmerkmalen: Begabung, Intelligenz, überdurchschnittlicher Fleiss oder Hartnäckigkeit. Bei einigen spielte auch der Trotzfaktor eine Rolle: Wenn ihnen die Lehrperson eine düstere Zukunft ausgemalt hat, nahmen sie das als Ansporn, sich umso härter ins Zeug zu legen, im Sinne von: «Denen werde ich es zeigen!» Insofern waren die Befragten oft sehr konservativ im Denken, entsprechend dem meritokratischen Ideal, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Aber eben, die Forschung spricht eine andere Sprache. Schulerfolg ist nicht eine meritokratische, sondern vielmehr eine heritokratische Frage: Eine Frage des familiären Erbes. Im Nachgang zur Studie haben viele Befragte die Ungerechtigkeiten, mit denen sie konfrontiert waren, dann auch tatsächlich eingesehen.
Wie vermag die Schule ihren Mittelschicht-Bias zu überwinden? Wie sind Arbeiterkinder besser zu fördern?
Gefragt ist ein Perspektivenwechsel in den Köpfen mancher Lehrpersonen. Statt das gesamte Bildungssystem mit viel Brimborium und Geld umkrempeln zu wollen, geht es darum, dass Pädagoginnen und Pädagogen ihre Einstellung ändern: Weg von der Defizitperspektive, hin zur Frage, wie sie besser zur Entfaltung der Ich-Identität auch von Arbeiterkindern beitragen können. Dazu gehört eine selbstkritische Befragung des eigenen Handelns: Viele Lehrpersonen glauben nach wie vor, dass Kinder aus gutsituierten Familien automatisch begabter sind. Solche Irrtümer gilt es, zu beseitigen. Etwa durch den Aufbau eines positiven, ressourcenorientierten Blicks. Ein Kind mit Migrationshintergrund hat zunächst vielleicht Mühe mit der deutschen Sprache. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man daneben viele schlummernde Interessen und Begabungen. Diese gilt es zu entdecken, anzuerkennen und verantwortungsvoll zu fördern.
Können Sie da noch konkreter werden?
Es ist schon sehr viel geholfen, wenn diesen Kindern Mut gemacht wird, wenn die Lehrperson zeigt, dass sie an diese Kinder glaubt. Mein Mann stammt aus einer gut situierten Familie aus der Stadt Aarau. Ich hingegen bin wie gesagt in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ich war selbst so ein Arbeiterkind. Als ich meinen Mann erstmals zu mir nach Hause eingeladen hatte, da wurde ihm bewusst: Margrit, du hast ja ganz andere Bedingungen als ich. Bei dir gibt es keine Bücher, keine teuren Spielzeuge, keine Musikinstrumente. Umso mehr hat mich mein Mann angespornt, eine akademische Karriere einzuschlagen. Diese emotionale Unterstützung hat mir sehr geholfen. Daneben gibt es viele weitere Möglichkeiten der Förderung. Der Ausbau eines Mentorats-Systems etwa, wobei betroffene Arbeiterkinder von motivierten Begleitpersonen (etwa von der Fussballtrainerin oder vom Klavierlehrer) in der Schule gezielt Unterstützung erhalten. Auch bietet sich die Einführung von Stipendien bereits ab Primarschulstufe an. Mit gezielt eingesetzten Fördergeldern können sich Arbeiterkinder besseres Schulmaterial, ein Musikinstrument oder die Mitgliedschaft beim Fussballverein oder den Pfadfindern leisten.
Zur Person
Margrit Stamm, 75, ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg (CH), bekannt für ihre Arbeiten zur Begabungsforschung, Frühförderung, Berufsbildungsqualität und Förderung von Migrantenkindern. Ihr neustes Buch «Von unten nach oben. Arbeiterkinder und ihre Bildungsaufstiege ans Gymnasium»,
Beltz Verlag, ca. Fr. 29.–.
