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Entwicklung
Laufenlernen: Was Eltern wissen sollten
Hilfe, mein Kind hat O-Beine! Welche Schuhe sind richtig zum Laufenlernen? Wächst sich ein sonderbarer Gang raus? Sobald das Kind beginnt zu stehen, kommen bei Eltern plötzlich ganz neue Fragen auf. Der Kinderorthopäde Martin Reinke beantwortet im «wir eltern»-Gespräch ein paar davon.
wir eltern: Medizinische Informationen können für Eltern verwirrend sein. In meiner Kindheit hiess es noch: «Ein Kinderfuss braucht Halt» und es gab diese hohen Lauflernschuhe. Heute werden die weichen Lederschläppchen favorisiert. Was denn nun?
Dr. Martin Reinke: Teils, teils. Das Alter des Kindes ist natürlich entscheidend, aber aktuelle Studien sind eher auf der Seite, dass ein Schuh die natürliche Flexibilität des Fusses fördern sollte. Eine zu starre Sohle etwa verhindert das natürliche Abrollen. Gleichzeitig ist es aber nicht gut, wenn ein Kind in seinem Schuh schwimmt, also hin- und her rutscht. Insofern stimmt das mit dem Halt doch ein bisschen. Der Kinderfuss sollte im Schuh so viel Halt haben, dass er einen adäquaten Druck an den richtigen Stellen ausüben kann, damit sich die sogenannten passiven Strukturen, also etwa die Bänder und Muskeln, optimal ausprägen und nicht irgendwann später Schmerzen entstehen. Es ist gut, die Fussform genau anzusehen.
Das heisst?
Na ja, bei Schuhen wird meist nur auf die Länge geachtet, aber jeder Fuss hat auch eine individuelle Form: vorne breit, hinten schmal, vorne schmal, hinten breit… Das wird manchmal vergessen, sollte aber beim Schuhkauf beachtet werden. Etwa, indem man die Innensohle herausnimmt und schaut, wie sie zur Form des Fusses passt. Gute Schuhverkäufer* innen sehen das.

zvg
Dr. Martin Reinke ist Facharzt für Orthopädie am Ostschweizer Kinderspital St.Gallen.
Nun bekommen Eltern oft schon zur Geburt niedliche Schühchen fürs Baby geschenkt, stylische Turnschuhe, Winterboots… Anziehen oder nicht?
Warm sollen die Füsse natürlich schon sein. Aber Schuhe braucht es nicht, solange das Baby nicht läuft. Schaden tun sie allerdings auch nicht, solange die Füsse nicht belastet werden. Vorausgesetzt natürlich, der Schuh hängt nicht wie ein Klotz am Bein und zieht das Füsschen nach unten.
Die meisten Eltern können den Zeitpunkt der ersten Schritte gar nicht erwarten. Das stimmt, das ist ein sehr emotionaler Moment. Deshalb forcieren sie das Laufenlernen des Kindes leider oftmals.
Ich habe einen Bekannten, der seinem Sohn extra vorgekrabbelt ist, um das ein bisschen zu pushen…
Hat Ihr Bekannter mal überlegt, ob vielleicht der Fussboden so glatt ist, dass das Kind ganz ohne Krabbeln vorwärtskommt? Meine Tochter ist nur gerobbt. Sie kam prima ohne Krabbeln aus.
Ist das nicht schlecht? Braucht es nicht alle Entwicklungsschritte?
Kinder passen sich wunderbar an die gegebenen Bedingungen an. Auch durchs Robben erlernen sie die nötige Koordination. Und etwa auf einer Wiese werden sie eine andere Möglichkeit der Bewegung kennenlernen… Kinder laufen, wenn sie von ihrer Entwicklung her dazu bereit sind: übers Sitzen, Robben, Krabbeln – Laufen ist einfach der finale Punkt. Das hat die Natur schlau eingerichtet. Dauerndes an den Händen laufen lassen oder diese Lauflerngeräte können jedoch zu Fehlbelastungen führen. Und – diese Geräte sorgen ausserdem noch für viele Unfälle.
Und wenn das Kind dann läuft – hat es oft O-Beine…
Ja, das ist initial physiologisch.
Das heisst «Macht nix, wächst sich raus»?
Richtig. Das ist ein Entwicklungsprozess und kein Anlass zur Sorge. Genauso wie viele Vierjährige X-Beine haben. Auch das liegt einfach daran, dass bestimmte Teile der Beine, Füsse, Hüften wachsen und ihre Stellung verändern. Solange es symmetrisch ist, ist meist alles okay.
Apropos Stellung. Viele Mädchen und Jungen laufen mit den Füssen nach innen. Und mein Vater hat mich stets ermahnt, schön aufrecht zu gehen.
(lacht) Aufrechter Gang ist ja nicht schlecht. Aber im Ernst: Da kritisiert man Kinder nur. Die Kritik sollte man sich für Wichtigeres aufsparen. Das gibt sich meist von allein.
Auch dieses Tippeln?
Tippeln? Ach, Sie meinen den habituellen Zehenspitzengang? Wenn das über einen längeren Zeitraum auftritt, lohnt sich der Besuch bei einem Orthopäden. Denn Wadenmuskulatur, Bänder und Bindegewebe werden auf diese Art schon ungewöhnlich belastet. Hellhörig sollte man werden, wenn der Zehenspitzengang nur einseitig gezeigt wird. Das muss zwingend abgeklärt werden.
Gibt es Fusserkrankungen, die in den vergangenen Jahren zugenommen haben?
Das Gewicht der Kinder hat zugenommen. Ich will hier keine Diät proklamieren, aber ein zu hohes Gewicht bedeutet für den Fuss natürlich eine deutlich höhere Belastung.
Kann man bei Kindern irgendwie späteren Fussproblemen vorbeugen?
Ja. Etwa Nägel nicht zu kurz schneiden, damit sie nicht einwachsen. Keine Lauflerngeräte. So oft wie möglich barfuss laufen lassen, damit sich das Fussgewölbe gut entwickelt. Und eben – passende Schuhe wählen. Je nach Entwicklungsphase wächst ein Kinderfuss ja 1 bis 23 Millimeter pro Monat.
Teure Angelegenheit, so ein ständiger Schuhkauf. Gehen auch Secondhand-Schuhe?
Warum nicht? Auch ökologisch ist das ja durchaus sinnvoll. Allerdings müssen sie eben – wie schon gesagt – perfekt passen. Meine drei Kinder tragen auch manchmal Schuhe, die sie von ihren Cousins geerbt haben.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.