
Judith Schönenberger
Gesellschaft
Trans Mädchen: «Ich bin nicht allein!»
Von Christina Caprez
Die zehnjährige Lia ist ein trans Mädchen. Sie lebt mit ihren Eltern in Bern, möchte Schauspielerin werden und verbringt gerne Zeit mit ihren Freund:innen. Hier erzählt sie aus ihrem Alltag.
Ich bin Lia*, und mich interessiert eigentlich fast alles, was mit Sport zu tun hat: Ich schwimme sehr gern und ich spiele in einem Fussballclub. Ich höre mega gern Musik und tanze. Ich gehe ins Modern Ballett, das ist ein bisschen alle Tanzrichtungen zusammengemixt. Ich mache sehr gerne Handarbeiten, Stricken zum Beispiel. Und ich treffe mich gerne mit meinen Freundinnen. Wir laufen im Quartier herum oder gehen ins Schwimmbad. Ich habe mich entschieden, bei diesem Buch* mitzumachen, weil mich das Thema interessiert. Für andere Kinder, die auch trans sind, und für die, die mehr darüber wissen wollen.
Vor Kurzem mussten wir in der Schule eine Biografie über uns und unsere Familie schreiben. Wir konnten die Themen selber wählen, und da habe ich eben auch über trans geschrieben, weil das ein wichtiger Teil meines Lebens ist. Seit ich zweieinhalb Jahre alt bin, wollte ich immer ein Kleidchen anziehen. Ich trug oft einen Rock von Mama über den Schultern, sodass es aussah wie ein Kleid. Dann hat mich meine Mama mit Lippenstift schminken müssen, und wir haben Prinzessin gespielt, stundenlang, fast jeden Tag, auch mit meinem Papa. Im Kindergarten wollte ich in jedem Spiel «Lia» heissen. Ich wollte nur noch pinke Sachen anziehen und ich fand «Anna und Elsa» aus dem Disneyfilm «Frozen» toll. Meine Eltern haben sich dann beraten lassen, ob es nur eine Phase ist. Ich habe meinen Eltern auch gesagt, dass ich ein Mädchen sein und Lia heissen will. So haben sie bald gemerkt, dass es keine Phase ist.
Ich bin die Lia
Am Anfang fiel es ihnen noch schwer. Wenn ich hingefallen bin, riefen sie mich bei meinem Jungennamen und korrigierten sich dann schnell. Als ich viereinhalb Jahre alt war, haben wir einen Kuchen gebacken und sind damit in den Kindergarten gegangen. Wir haben dann halt gesagt, dass ich jetzt die Lia bin. Für die Kinder war das kein Ding, für sie war ich die ganze Zeit schon ein Mädchen. Weil ich vorher schon immer gesagt hatte, dass ich ein Mädchen bin und Lia heissen will.
Das ist jetzt in der Schule fast mehr ein Ding, da gibt es Kinder, die fies zu mir sind. So in der dritten Klasse hat es angefangen. In der Tagesschule haben sie gerufen: «Hallo, du Junge!» Sie haben laut herumgeschrien und allen gesagt, dass ich ein Junge sei. Jetzt in der Fünften haben ein paar Kinder einmal beim Mittagessen gespottet: «Ich verstehe es nicht, wie man so sein kann!» Sie hörten nicht auf zu lästern. Es war zwar eine erwachsene Person im Raum, aber die Kinder sprachen so leise, dass sie es nicht hören konnte. Immer, wenn ich es der Erwachsenen sagen wollte, sagten sie: «Wir hören auf, sorry, sorry!» Aber dann machten sie trotzdem weiter. Da bin ich mega ausgerastet und habe geschrien: «Jetzt haltet alle eure Fresse!» Ich rannte nach draussen, und zwei Freundinnen kamen mir nach. Es lag Schnee, und wir taten so, als wären die fiesen Kinder ein Schneeball. Wir schlugen mega fest auf den Schnee. Die Lehrerin schimpfte dann mit den Kindern, die mich ausgelacht hatten. Seither haben sie es nicht mehr gemacht, und ich hoffe, es bleibt auch so.
Ich habe dreimal eine neue Lehrerin bekommen: in der ersten, dritten und fünften Klasse. Jedes Mal haben meine Eltern vorher mit der Lehrerin geredet und ihr gesagt, dass ich ein trans Mädchen bin. Dieses Jahr war ich bei dem Gespräch dabei. Nervös war ich nicht, denn die Lehrerinnen haben es alle super akzeptiert. Wenn jemand fies zu mir war, waren sie immer auf meiner Seite. Fragen haben sie schon gestellt, aber nie dumme. Sie fragten zum Beispiel, wie sie mir helfen könnten, wenn ich gemobbt würde und es mir deswegen schlecht geht. Sie redeten auch an einem Elternabend darüber: «Es gibt ein Kind in der Klasse, das trans ist.» Die Eltern der anderen Kinder haben es alle super angenommen und verstanden.
Lia
Mit Mama auf der Demo
In der Vierten hatten wir Schwimmunterricht mit einer anderen Klasse. Dort habe ich mich bei den Mädchen umgezogen. Ich nahm einfach ein Handtuch um die Hüfte. Im Sport war es nie ein Problem, da müssen wir uns ja nie nackt ausziehen, nur die Sportsachen an- und ausziehen. Der Sportunterricht ist bei uns nicht getrennt, Mädchen und Jungs turnen zusammen. Und wenn, würde ich zu den Mädchen gehen. Die Lehrerinnen sagen, ich darf entscheiden, wo ich hingehe.
Ich wusste früher nicht, was trans ist. Ich sagte halt einfach: «Ich bin ein Mädchen.» Ein Mädchen oder eine Frau ist für mich eine Person, die sagt: «Ich bin ein Mädchen» oder «Ich bin eine Frau». Wenn irgendein Junge als Witz sagt: «Ich bin eine Frau», dann ist er keine Frau. Aber sonst, wenn jemand sagt: «Ich bin eine Frau», dann ist diese Person eine Frau. Das ist für mich ganz klar. Es gibt auch Menschen, die sagen: «Ich bin eine Frau und ein Mann, manchmal so, manchmal so.» Das gibt es auch. Aber man kann jetzt nicht jeden Tag switchen von einem zum anderen. So im Stil: «Heute bin ich eine Frau, und eine Woche später, ah nein, ich bin doch ein Mann, ah nein, ich bin doch eine Frau.» Letzten Sommer bin ich mit meiner Mama auf eine grosse Demonstration gegangen. Wir waren ganz regenbogenfarbig angezogen. Es waren viele Leute da. Es gab eine Drag-Show und ein paar Vorträge von trans Menschen und Menschen, die nicht trans sind. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht allein bin. Trans Menschen und schwule und lesbische Menschen haben nichts direkt miteinander zu tun. Aber sie gehören halt alle zu queer. Und ich finde, man soll sich gegenseitig unterstützen. Wenn man an eine Demonstration geht, dann kämpft man ja nicht nur für sich, sondern für das ganze LGBTQIA+. Da gibt es ja tausende Fachbegriffe für alles. Aber alles gehört zu LGBTQIA+, und alle sind anders als Menschen, die sich in ihrem Geschlecht wohlfühlen oder wenn Mann und Frau zusammenleben. Und wenn man anders ist, hat man halt manchmal auch Angst, dass Leute, die man gernhat, einen plötzlich doof finden und nichts mehr mit einem zu tun haben wollen. Und dann muss man sich einfach gegenseitig unterstützen.
Befremdliche Reaktionen
Ich habe manchmal Angst, dass Leute, die ich gernhabe, mega doof reagieren, wenn ich ihnen sage, dass ich trans bin. So etwas wie: «Mit dir will ich nichts mehr zu tun haben.» Das ist zum Glück noch nie vorgekommen. Ich weiss noch ganz genau, wie ich es meiner besten Freundin gesagt habe. Damals waren wir sieben. Wir hörten Musik und tanzten. Ich schaltete die Musik aus und sagte ihr: «Ich war früher ein Junge. Ich wollte aber ein Mädchen sein. Und jetzt bin ich ein Mädchen.» Und sie so: «Okay, ja, kein Problem für mich. Können wir weitertanzen?» Sie hat es einfach super akzeptiert.
Auch aus meiner Klasse kam nie eine schlechte Reaktion. Wenn sie Fragen stellten, waren sie immer mega rücksichtsvoll: «Du, ich hätte eine Frage, du musst sie nicht beantworten, aber du kannst, wenn du willst.» Dann habe ich die Frage auch meistens beantwortet. Sie fragten: «Was ist denn, wenn du eine Vagina haben möchtest, geht das denn?» Ich sagte dann: «Ja, das ist dann eine Geschlechtsangleichung. Und wenn ich Brüste haben möchte, muss ich zuerst Hormonblocker nehmen, und dann bekomme ich irgendein Mittel, das meine Brust wachsen lässt. So entwickelt sich der Körper immer mehr zu einem weiblichen Körper.»
Es gab nur zwei schlechte Reaktionen von Erwachsenen. Einer von ihnen gehört zu unserer Familie. Er konnte es wegen der Religion nicht gut annehmen. Ich war damals noch ganz klein. Mittlerweile hat er Verständnis dafür, er brauchte halt Zeit. Jetzt hat er mich mega gern, und ich habe ihn auch gern. Die andere Person war eine Bekannte meiner Eltern, die im selben Quartier wohnte. Als meine Eltern ihr sagten: «Unser Kind ist trans», meinte sie: «Das gibt es nicht!» Als hätte sie die Antwort vorbereitet: «Das gibt es nicht! Das gibt es nicht!» Seither haben meine Eltern sie nie wieder gesehen. Diese Frau ist doch ein Erbsenhirn! Nein, ich verstehe diese Leute nicht. Zu sagen: «Es gibt trans nicht», ist genau, wie wenn man sagen würde: «Es gibt keine Leute mit kurzen Haaren» oder «Es gibt keine Leute, die Blau gernhaben». Es ist wirklich absurd. Ich verstehe es nicht.
Geschlechtsangleichung
Ich weiss, dass das irgendwann einmal kommen wird, dass jemand sagt: «Mit dir möchte ich keine Zeit mehr verbringen!», oder dass mir doofe Menschen begegnen. Dann bin ich sicher traurig. Der Person sage ich dann vielleicht: «Ich würde gern noch Zeit mit dir verbringen, aber wenn du das sagst, will ich auch keine Zeit mehr mit dir verbringen, weil du Menschen nicht so annehmen kannst, wie sie sind.» Man muss einfach denken: «Okay, du hast kein Verständnis dafür, das ist dein Problem, nicht meines. Ich bin immer einen Schritt voraus. Ich kann Menschen so annehmen, wie sie sind.» Diesen Rat hat mir ein Freund meiner Eltern gegeben, der auch trans ist. Mit ihm konnte ich reden, als die Kinder in der Schule so fies zu mir waren. Er sagte mir: «Wenn man Menschen nicht so akzeptieren kann, wie sie sind, dann kommt man nicht weit im Leben.» Es ist gut, wenn man mit jemandem sprechen kann, der halt ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Ich kann mit meinen Eltern super über meine Sorgen reden, aber sie verstehen mich, glaube ich, nicht so, wie mich eine trans Person bei diesem Thema versteht.
Mit meinem Körper geht es mir momentan gut. Aber ich würde schon gern, wenn ich älter bin, die Geschlechtsangleichung machen. Vor Kurzem sind wir zu einer Besprechung ins Inselspital gegangen. Aber dort hat es uns nicht so gut gefallen. Ich kam rein, und der Arzt sprach mich direkt mit dem falschen Namen an, mit dem Jungennamen. Er sagte auch: «Wir geben erst mit 16 Hormonblocker.» Ich so: «Aber mit 16 hört doch die Pubertät auf? Was bringen dann noch die Hormonblocker?» Da sagte er: «Dann lieber einmal mehr rasieren.» Ich so: «Ich möchte mich aber nicht rasieren!» Danach sind wir nach Basel ins Spital. Dort sagten sie: «Die Hormonblocker geben wir, wenn die Pubertät anfängt.»
Jetzt gehe ich drei- bis viermal im Jahr dorthin. Sie untersuchen mich und nehmen mir Blut ab. Wenn die Pubertät eingesetzt hat, bekomme ich Hormonblocker. Ich habe mir immer vorgestellt, das seien so Tabletten, die man zweimal in der Woche einnimmt. Aber es sind Spritzen, die man einmal im Monat ins Bein bekommt. Das ist eine komische Vorstellung. Ich hasse Spritzen. Aber sie sagten mir auch, ich bekomme dann ein Pflaster, das die Stelle am Bein betäubt, so spüre ich die Spritze gar nicht. Und wenn ich die Hormonblocker nicht mehr brauche, bekomme ich etwas, damit die Brüste wachsen. Und wenn ich das dann immer noch will, kann ich ab 18 die Geschlechtsangleichung machen. Es gibt halt bei fast jeder trans Person so eine zwei- oder dreiprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es sich noch ändert. Aber ich glaube, das wird bei mir nicht passieren.
Für mich sind alle gleich
Ich hatte schon manchmal den Wunsch, ich wäre als Mädchen geboren, weil dann alles viel einfacher gewesen wäre. Dann hätte ich mich nie outen müssen, hätte nie dumme Sprüche abbekommen und müsste nie Blocker nehmen. Aber ich bin so, wie ich bin, und es ist gut so, wie ich bin.
Für mich sind Mädchen und Jungen eigentlich gleich. Ich finde es mega bescheuert, dass man aufwächst und weiss: Die Jungen bekommen einen blauen Schlafanzug mit einem Auto oder Bagger drauf und die Mädchen einen pinken mit einer Prinzessin oder einer Fee drauf. Lasst doch das Kind selber entscheiden, was seine Lieblingsfarbe ist und ob es lieber Bagger oder Prinzessinnen hat! Ein zweijähriges Kind kann nicht sagen: «Ich habe lieber Feen» oder «Ich habe lieber Bagger». Das sagt: «Bagg!» Baggy, Bagger, Brei – für was steht Bagg? Es ist immer noch so: Mädchen spielen mit Mädchen und Jungen mit Jungen. Also, ich verstehe mich mit fast allen Jungs in meiner Klasse gut. Wenn ich ein Junge geblieben wäre, hätte ich wahrscheinlich mehr mit Jungen zu tun und weniger mit Mädchen, aber ich glaube, ich hätte schon auch Mädchen als Freundinnen. In den ersten Jahren fand ich Pink und Rosa und Prinzessinnen und Einhörner toll. Ich und meine Freundinnen, wir konnten alle «Anna und Elsa»-Lieder auswendig und wünschten uns «Elsa»-Tutus. So ab der zweiten, dritten Klasse findet man das dann mega peinlich. Wenn ich erwachsen bin, möchte ich Schauspielerin werden wie meine Eltern. Ich habe schon in einem Weihnachtsmärchen und in einem Film mitgespielt. In dem Film ging es um ein trans Mädchen, die hiess Nina. Ich spielte Ninas Freundin. Da habe ich das Leben als Schauspielerin kennengelernt. Es ist halt schon cool, im Rampenlicht zu stehen. Ich bin gern im Mittelpunkt. Am liebsten würde ich Musicaldarstellerin werden. Ich würde gern in der Schweiz bleiben oder irgendwohin gehen, wo Schauspiel recht gross ist.
Ich würde vielleicht gern mal heiraten. Welches Geschlecht die Person hat, ist mir egal. Hauptsache, ich habe die Person gern und die Person hat mich gern, und wir wollen beide heiraten. Es kommt ja nicht nur auf das Geschlecht an bei einer Beziehung. Auch nicht darauf, ob man die Person schön findet oder nicht. Sondern mehr auf den Charakter und ob man die Person gernhat.»
* Lia ist eines der porträtierten Kinder und Jugendlichen aus dem Buch «Queer Kids». Abdruck mit freundlicher Genehmigung Limmat Verlag. Weitere Informationen und Lesungen. → queerkids.ch
«Queer Kids, 15 Porträts» von Christina Caprez, Fotos von Judith Schönenberger. 2024, Fr. 29.90, Limmat Verlag, → limmatverlag.ch