Spital
Und wo ist das Merkblatt für Mami?

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Sie kann den Satz, den ihr die Pflegefachfrau damals sagte, bis heute auswendig: «Sie müssen dankbar sein! Hier gibt es ganz andere Schicksale.»
Und damit wurde Inès, 34, die hier nur ihren Vornamen nennen möchte, nach drei Wochen Spitalaufenthalt aus der Kinderklinik am Berner Inselspital nach Hause entlassen. Die Schwester habe es sicher nicht böse gemeint, sagt Inès. Doch der Satz hatte Depotwirkung. Zwar spazierte sie mit einem gesunden Kind im Maxi-Cosi aus der Klinik, aber sie trug einen schweren Rucksack an Eindrücken. Zu Hause angekommen, konnte Inès die ersten zwei Tage nichts anderes als weinen. Die Last und die Anspannung der vergangenen Wochen fielen von ihr ab und sie zusammen «we nes Öpfuchüechli!» Damit ist sie nicht allein.
Viele Eltern, besonders oft die Mütter, die ihre Kinder wegen Krankheit oder Unfall im Kinderspital versorgen müssen, fallen nach der Entlassung in ein wochenoder monatelanges, tiefes Loch. Ein Spital, auch wenn sich die meisten Kinderspitäler um ein besonders familiäres Klima kümmern, empfinden die Eltern als Bedrohung und es macht ihnen Angst. Auch dem tapferen Mami und dem coolen Vater. Zwar gibt das Pflegepersonal und die Ärzte haufenweise Material und Ratschläge mit nach Hause, damit sie wissen, was im Notfall gemacht werden muss – aber eben, mit dem Kind.
Oft zeigen sich die Symptome bei den Grossen erst, wenn sich die Kleinen längst wieder erholt haben. Dann leiden Eltern an Schlafstörungen, sind ängstlich, schreckhaft, weinen viel, können sich schlecht konzentrieren, und einige empfinden es als besonders belastend, dass ihnen im Umgang mit dem Kind das Urvertrauen verloren gegangen ist. Ebenfalls tauchen – dies bestätigt auch Inès – immer wieder die vielen verstörenden Bilder auf. In der Regel legen sich die Symptome nach einiger Zeit wieder, aber dennoch trauen sich viele Betroffenen nicht, darüber zu reden. Das schlechte Gewissen, dass man – wie es die Schwester ja auch gesagt hat! – «doch dankbar sein sollte», dass es nicht viel schlimmer kam.
Und so denkt man, voller Scham, zum Beispiel an die Mutter, die man in der Kinderspital- Kantine getroffen hat und deren Kind seit Monaten mit Leukämie dort liegen muss. Denn es gilt natürlich zu unterscheiden: Angehörigen von schwer- oder chronisch kranken Kindern wird an den meisten Kinderspitälern eine intensive psychologische Begleitung durch Seelsorgeeinrichtungen und psychologische Dienste angeboten. Oft treten bei ihnen schwere Fälle von posttraumatischen Belastungsstörungen auf. Bei Eltern von Kindern mit Krebs beträgt dieser Anteil gemäss einer Studie des Kinderspitals Zürich (siehe Interview) ein Jahr nach der Diagnose des Kindes 20 bis 25 Prozent. Bei Eltern von verunfallten Kindern um die 5 Prozent. Die Raten bei anderen Krankheiten liegen irgendwo dazwischen. Diese Restmenge ist hier gemeint. Denn darunter befinden sich viele Eltern, die ungenügend darüber aufgeklärt sind, dass solche Gefühle normal sein können und oft vorkommen.
Hartnäckige Erinnerungen
Im Inselspital in Bern wurden in der Kinderklinik letztes Jahr 4600 Kinder behandelt. In rund 550 Fällen war ein Team der Kinder- und Jugendpsychiatrie involviert. Am Zürcher Kispi wurden 6831 Patienten behandelt (2011), im Durchschnitt blieben sie 7,7 Tage stationär. Das Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen versorgte im vergangenen Jahr 3751 Kinder. Hochgerechnet auf die ganze Schweiz sind das sicher an die 30 000 Elternpaare, die jedes Jahr mit einem Kind ins Spital müssen. Wenn man davon ausgeht, dass – analog zu den Zahlen des Inselspitals in Bern – ein Zehntel psychologisch betreut werden, sind das etwa 3000 Elternpaare. Pro Jahr.
Oft sind es vermeintliche «Nuancen-Eindrücke », die im Spitalalltag oft vorkommen, die für hartnäckige Erinnerungserlebnisse sorgen. Das kann auch nur ein falsches Wort sein. Inès erzählt ihre Geschichte: Das Neugeborene, knapp vier Wochen, begann in der Nacht zu fiebern. Die Mutter, zum ersten Mal Mami, war sofort in Sorge, versuchte aber, sich zu beruhigen. Erst mit Geduld, dann mit Paracetamol; doch als Tom, das Baby, über Stunden über vierzig Grad Fieber hatte, fuhr sie auf Anraten des Kinderarztes in den Notfall der Kinderklinik am Inselspital. Dort musste sie nicht lange warten, sondern wurde von einer «sehr lieben» Pflegefachfrau empfangen und ins Untersuchungszimmer geführt.
Ein Arzt sah sich den fiebernden Tom an, ein Oberarzt kam dazu. Es bestehe Verdacht auf Hirnhautentzündung, so der Bescheid. Heisst: Entnahme von Liquorflüssigkeit, der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit, Punktieren des Spinalkanals. Bei der Entnahme müsse man das Kind besonders fest halten und an Händen und Füssen in eine Art «Schraubstock» nehmen, damit man nicht falsch steche. «Sie sollten das wirklich nicht sehen!», habe der Oberarzt ihr dann geraten. «Ihr Baby wird gleich zusammengeklappt wie eine Handorgel!» Ines staunte über die Wortwahl, beharrte aber darauf, bei ihrem Sohn bleiben zu dürfen. Das Bild brannte sich aber in Inès Kopf ein …
Der brüllende Tom im Neonlicht des Behandlungsraums, das Kinderbuch «Elisabeth wird gesund», der Geruch, das gelbe Federlein, das am Namensschild der einen Schwester angeklebt war; alles abgespeichert, jederzeit abrufbar. «Handorgel?!»
Wärmepumpen-Anlagen haben viele Vorteile. Werden sie aber nicht richtig geplant und in Betrieb genommen, verlieren sie an Effizienz oder machen sogar Probleme. Nach zwei Stunden warten hiess es: Hirnhautentzündung negativ. Aber dem Kind gehe es wirklich nicht gut, es müsse auf die Station und in ein Isolierzimmer. Dort verbrachten Mutter und Kind die nächsten zehn Tage zusammen; sie stillte den Buben und wollte so oft wie möglich bei ihm sein. Ein Marathon an Untersuchungen ging los. Tom wurde auf Herz und Nieren geprüft. Herzfehler? Loch in der Lunge? Das ganze Programm. Aber auch nach zwei Wochen fand man nichts und die Diagnose lautete schlussendlich «Viraler Infekt».
Die 34-Jährige war wie in Watte gepackt, schlief auf einem Klappbett im Zimmer des Kindes, völlig fixiert auf den Monitor, an dem Toms Gesundheitszustand ablesbar war. Piepte er, und das tat er oft, fuhr die Mutter zusammen und war panisch. Ihre Welt war eng. Nur das Kind, das Zimmer und sie. Sie war dünnhäutig, übernächtigt, legte jedes Wort der Ärzte und Schwestern auf die Goldwaage, löcherte alle mit Fragen, fuhr ihren Mann an, der meistens nur hilflos zu Besuch kam. «Ich ging allen zünftig auf die Nerven», sagt sie. «Doch ich war ja quasi noch Wöchnerin und völlig am Ende.»
Besonders der Monitor, der immer Puls und die Sauerstoff-Sättigung des Babys angab, war ihr grösster Feind. «Die Tage waren eingeteilt in ‹über achtzig› und ‹unter achtzig›.» Rutschte der Wert darunter, glaubte sie, dass ihr Sohn stirbt; kletterte er wieder hoch, wurde sie zuversichtlicher. Diese Achterbahn der Gefühle ist normal. Der gesunde Menschenverstand wird von den Werten der technischen Geräte übertönt.
Jasmina Robl ist Pflegefachfrau am Kinderspital in Zürich. Sie arbeitet im Moment auf der Neonatologie-Abteilung, davor war sie jahrelang auf einer anderen Station. Sie sieht Eltern, die lange Zeit mit ihren Neugeborenen bei ihr sind. Im persönlichen Austausch ihnen erachtet Robl «Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Verständnis» als ganz wichtig. «Es gehört auch zu meiner Arbeit, ein offenes Ohr für ihre Sorgen zu haben. Sie haben doch ganz andere Bedürfnisse, da sie sich in einem Ausnahmezustand befinden.» Da brauche es viel Geduld und Respekt, sagt die Pflegefachfrau.
Es braucht eine Zeit, bis man sich nach einem Spitalaufenthalt wieder erholt hat. Symptome wie Ängstlichkeit, Traurigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme oder Schreckhaftigkeit kommen oft vor. Für Eltern von schwer kranken und verunfallten oder brandverletzten Kindern gibt es diverse Selbsthilfegruppen (reden Sie darüber und erkundigen Sie sich im Spital beim Pflegepersonal). Verschleppte und verdrängte Gefühle können, je nach Schwere des Erlebnisses, zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen. Jedes Kinderspital hat einen psychologischen Dienst – man sollte sich ungeniert an diesen wenden und keine Schamgefühle haben, über seine Ängste zu reden.
Infos
Kinderspital Zürich:
www.kispi.uzh.ch
Kinderkliniken Inselspital Bern:
www.kinderkliniken.insel.ch
Kinderspital Ostschweiz:
www.kispisg.ch
Kinderspital Genf:
www.evlk.ch
Der Horrortrip beginnt
Sonja L., 37, aus Zollikerberg war jedenfalls froh, dass man sie verständnisvoll behandelte am Kispi. Ihr vierjähriger Sohn Miles stürzte mit dem Kickboard auf den Hinterkopf. (In den letzten drei Jahren haben sich die Kopfverletzungen auf Kickboards verachtfacht. Grund: kein Helm!) Der Sohn begann zu weinen, erbrach, wurde schläfrig. Sofort war für die erfahrene Mutter klar, dass es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um eine Hirnerschütterung handelt. Der Kinderarzt in der Praxis in Zollikon schickte sie sofort ins Kispi Zürich runter. Von diesem Moment an verlor sie das Gefühl für Zeit und Raum und schildert das Erlebte im Zeitraffer als «absoluten Horrortrip».
Der Bub wurde untersucht, man zündete ihm mit der Taschenlampe in die Pupillen. Zuerst: Entwarnung, man habe «alles im Griff». Dann fragte ein Arzt, warum die eine Pupille so gross sei? Verdacht auf Hirnblutung. Es eilten weitere Ärzte herbei, Miles verlor das Bewusstsein. «Miles, hörst du mich? Miles, hier bleiben!», sagte ein Arzt die ganze Zeit energisch. «Miles, hallo, Miles!» Die Mutter stand unter Schock, sah nur, wie rund zehn Menschen um ihren Sohn standen und irgendetwas taten. Miles aber kam nicht zu Bewusstsein und wurde hektisch in den Schockraum geschoben, Wiederbelebungsmassnahmen, und dann das schlimmste aller Bilder: Die beiden «Bügeleisen», die sie auf den Torso des bewusstlosen Kindes legen. Strom! Miles kam wieder, Miles erholte sich, keine Hirnblutung, eine Nacht auf der Intensivstation. Irgendwann in der Nacht trat die völlig verweinte Mutter ans Lavabo im Zimmer, sah in den Spiegel. «Vor mir stand eine Fremde.»
Nach vier Tagen durfte Miles nach Hause, strahlend verliess der kleine Charmeur die Abteilung. Doch Sonja litt. Die erste Woche zu Hause weinte sie alle paar Stunden völlig grundlos. Nachts kamen immer und immer wieder die Bilder aus dem Schockraum. Sie war völlig neben den Schuhen. Traurig, wochenlang ängstlich, schreckhaft; sie konnte kaum schlafen.
Eine Nachbarin meinte, dass sie sich psychologisch beraten lassen solle, wenn die Symptome innert vier Wochen immer noch so stark seien. Sie erwähnte das Wort «posttraumatische Belastungsstörung». Sonja Lier wusste vorher nichts davon; doch das Wissen, dass sie nicht alleine war mit diesen Gefühlen, beruhigte sie etwas. Und die Symptome legten sich von alleine wieder.
Offenbar ist das Thema nicht überall gleich angekommen in den Kinderspitälern. Während man sich im Kispi Zürich intensiv damit auseinandersetzt, liess Christian Wüthrich, Leitender Arzt Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Kinderklinik des Inselspitals in Bern, per Mail ausrichten, dass man dieses Eltern-Phänomen kaum beobachte und er darum nicht Stellung nehmen könne.

Interview
«Das Befinden der Eltern ist entscheidend»
Ein Gespräch mit Prof. Markus Landolt, Leitender Psychologe am Kinderspital Zürich
wir eltern: Herr Professor Landolt, viele Eltern leiden nach einem Aufenthalt mit einem Kind im Spital. Welches sind die häufigsten Symptome?
Markus Landolt: Ein Spitalaufenthalt eines Kindes ist für Eltern immer ein sehr belastendes Ereignis. Häufig leiden sie deshalb nach dem Austritt an Müdigkeit, Schlafstörungen, Albträumen, Bildern von belastenden Erlebnissen im Spital oder auch an Ängsten im Zusammenhang mit ihrem Kind. Einige haben auch Konzentrationsprobleme und sind dünnhäutiger.
Wie werden diese Eltern betreut?
Im Kinderspital Zürich werden die Eltern der meisten schwer kranken und verunfallten Kinder von Anfang an auch psychologisch unterstützt. Die Psychologin/der Psychologe gehört in diesen Fällen selbstverständlich zum multidisziplinären Behandlungsteam und kümmert sich auch um die Eltern. Und wenn das Kind aus dem Spital entlassen ist und keine weitere medizinische Betreuung mehr benötigt, werden die Eltern – falls nötig – durch externe Fachpersonen vor Ort weiter betreut.
Während eines Kispi-Aufenthalts vor allem für das Wohl des Kindes zu schauen, ist verständlich. Aber was raten Sie den Eltern, damit diese emotional nicht zu kurz kommen?
Das ist ein wichtiger Punkt, und das Befinden der Eltern ist schlussendlich auch entscheidend für das Befinden des Kindes. Wir raten deshalb Eltern von schwer kranken Kindern, gut zu sich selber zu schauen und sagen ihnen, dass sie damit auch ihrem Kind helfen. Regelmässig essen, sich durch Verwandte und Freunde am Krankenbett entlasten lassen, auch mal über Nacht, regelmässig an die frische Luft gehen, bei längeren Spitalaufenthalten auch als Elternpaar mal essen gehen, sich für kurze Zeit einmal zurückziehen ...
Gibt es im Kinderspital ein Merkblatt «Wie Eltern sich fühlen?» Oder wäre das allenfalls spannend, so etwas einzuführen?
Die Befindlichkeit der Eltern wird in diversen krankheitsspezifischen Informationsbroschüren thematisiert. Und natürlich werden Eltern auch in Gesprächen mit dem Pflegepersonal, den Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern auf diese Thematik aufmerksam gemacht. Das Personal des Kinderspitals unternimmt sehr viel, damit die Eltern durch den Spitalaufenthalt ihres Kindes möglichst wenig belastet werden.