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ADHS / ADS
Wann soll man Kindern Ritalin geben?
Was tun, wenn das Kind ADS oder ADHS hat? Verschreiben Ärzte hauptsächlich Medikamente, handelt es sich um einen Kunstfehler. Denn Ritalin und Co. sind Segen und Fluch zugleich.
Wie genau zeigt sich ADHS? Und wie zeigt sich ADS, die nach innen gerichtete Form der Aufmerksamkeitsstörung? Der Hürdenlauf beginnt bereits bei der Abklärung. Denn trotz langjähriger Forschung gibt es keinen Test, keine Biomarker, die Störungen schnell und zweifelsfrei nachweisen könnten. Eine komplexe klinische Untersuchung ist nötig; nur Fachärzte mit ausreichenden Spezialkenntnissen sollen sie vornehmen.
Symptome von ADHS
Fachpersonen richten sich entweder nach der internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO oder nach den Kriterien des DSM-5, eines Manuals für psychische Störungen, welche die American Psychiatric Association festgelegt hat. Letzteres definiert 18 Symptome. Treffen mindestens sechs zu, hat das Kind AD(H)S (siehe Info-Kasten). Die Kriterien lauten beispielsweise:
♦ Platzt häufig mit einer Antwort heraus, bevor die Frage fertig gestellt ist oder beendet Sätze anderer.
♦ Folgt Anweisungen oft nicht vollständig und schafft es oft nicht, Schularbeiten, lästige Arbeiten oder Pflichten zu vollenden.
♦ Läuft oft herum oder klettert in unpassenden Situationen.
♦ Ist oft leicht von äusseren Reizen oder irrelevanten Gedanken abgelenkt.
Wer beim Lesen eben einen gewissen Wiedererkennungseffekt verspürt hat oder realisiert, dass solches Verhalten typisch für viele Kinder ist, braucht sich keine Sorgen zu machen. «Etwas davon steckt in uns allen drin», sagt Urs Hunziker, Kinderarzt und AD(H)S-Spezialist am Kantonsspital Winterthur. «AD(H)S ist eine Frage der Ausprägung dieser Eigenheiten. Handlungsbedarf besteht erst, wenn der Leidensdruck alles überlagert.»
Die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizitstörung kommt mit und ohne Hyperaktivität vor. Sind beide Typen gemeint, lautet die abgekürzte Schreibweise AD(H)S. Das Hauptmerkmal beider Formen ist die Aufmerksamkeitsstörung. Bei ADS richtet sich die impulsive Reaktion nach innen, bei ADHS nach aussen. Gewisse Fachleute sprechen deshalb auch vom introvertierten und vom extravertierten Persönlichkeitstyp.
Vier Hauptsymptome von ADHS
Kommt ein Kind mit dem Verdacht auf AD(H)S ins Sozialpädiatrische Zentrum des Kantonsspitals Winterthur, sucht Hunziker nach diesen vier Hauptsymptomen: Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit und emotionale Instabilität.
«Die Diagnose AD(H)S stelle ich nur, wenn das Kind in allen vier Bereichen auffällig ist und zwar sowohl zu Hause, in der Schule, bei Freizeitaktivitäten wie auch unter Freunden. Typisch ist dabei, dass ihm nicht gelingt, was es sich vornimmt.» Ausschlaggebend sei zudem, dass die Symptome nicht erst seit kurzer Zeit da sind, sondern mehr oder weniger schon immer.
Wann Ritalin geben?
Das bedeute allerdings nicht, dass er nun sofort zum Rezeptblock greife, sagt Hunziker. Am Anfang einer Behandlung steht am Winterthurer Kantonsspital immer die Beratung – der Eltern und der Lehrpersonen, aber auch des Kindes, denn, so der Entwicklungspädiater: «Ab sieben, acht Jahren kann das Kind seine Situation gut beurteilen.»
In drei von fünf Fällen genügen einige Beratungssitzungen, manchmal mit der Empfehlung für ein Lerncoaching, das dem Kind hilft, die schulischen Aufgaben besser zu bewältigen. Reicht dies nicht aus, braucht es weiterführende Massnahmen, beispielsweise Verhaltenstherapie, Ergotherapie oder eine schulische Unterstützung bei allfälligen Teilleistungsstörungen wie Dyskalkulie oder Legasthenie. Als dritte Möglichkeit für mittlere und schwere Fälle besteht die medikamentöse Behandlung. «Nur gerade 10 bis 20 Prozent unserer Patienten erhalten Ritalin oder ein ähnliches Medikament schon zu Beginn der Beratung», so Hunziker.
Multimodale Therapie bei AD(H)S
Eine solche multimodale Therapie (siehe zweite Info-Box) sollte der Standard sein, dies fordern die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und das Institut für Familienforschung und Therapie der Uni Freiburg in ihren Anfang Jahr erschienen «Handlungsempfehlungen zum Umgang mit AD(H)S».
In der Realität ist jedoch die Medikation dominant. Eine vorgängige Studie der beiden Institutionen ergab, dass 82 Prozent der Kinder der befragten Eltern eine Pharmakotherapie erhalten. Auch die Mehrheit der von den beiden Institutionen interviewten medizinischen Fachpersonen behandelt Aufmerksamkeitsstörungen hauptsächlich medikamentös.
Zum Einsatz kommen heute verschiedene Wirkstoffe, allen voran Methylphenidat, besser bekannt unter den Handelsnamen Ritalin, Concerta oder Medikinet. Kurzwirksames Ritalin wurde in den 1990er-Jahren, als die Diagnose von AD(H)S breiter akzeptiert wurde, das therapeutische Mittel der Wahl. Es wirkt zwei bis vier Stunden, retardierte Formen wie Concerta und Medikinet MR hingegen bis zu acht Stunden. Seltener werden Dexamphetamin oder Guanfacin (Handelsname Intuniv) verschrieben. Dexamphetamin, das ebenfalls zu den Stimulanzien gehört, jedoch wie der Name sagt ein Amphetamin ist, hat sogar eine Wirkdauer von 14 bis 16 Stunden und Guanfacin bis zu 24 Stunden. Beide werden vorwiegend an ältere Kinder und Jugendliche als Folgemedikation abgegeben, wenn eine längere Wirkdauer erwünscht ist.
Die medikamentöse Behandlung von AD(H)S darf nur ein Teil eines umfassenden Therapieprogramms sein, zu dem psychologische, pädagogische und soziale Interventionen gehören, etwa:
♦ Psychoedukation: Angehörige und Lehrpersonen erwerben Wissen über AD(H)S und lernen, das Kind zu beobachten, zu verstehen sowie sich ihm gegenüber sinnvoll zu verhalten, ohne zusätzlichen Druck auszuüben.
♦ Verhaltenstherapie: Es kommen lösungsorientierte, psychotherapeutische Methoden zum Einsatz, welche die Sozialkompetenz der Betroffenen verbessern sowie Selbstwahrnehmung und Selbstkompetenz stärken.
♦ Individuelle Unterstützung: Heilpädagogische Früherziehung, Ergotherapie, Psychomotorik oder Lerncoaching helfen dem Kind bei der Bewältigung des (Schul-)Alltags.
♦ Alternative Therapieformen: Neurofeedback ist laut einer Metaanalyse nicht effektiv, ebenso wenig Omega-3-Fettsäuren. Homöopathie und TCM können für leichte Fälle hilfreich sein.
Ist ADHS heilbar?
AD(H)S heilen kann keines dieser Medikamente. Auch wirken die Substanzen nicht bei allen Personen gleich gut. Im besten Fall reduzieren sie die Kernsymptome, etwa die Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität oder Impulsivität. Das Kind kann sich dann besser konzentrieren, findet sich in seinem sozialen Umfeld einfacher zurecht und macht entsprechende hilfreiche Lernerfahrungen.
Sobald die Substanzen allerdings nicht mehr wirken, treten die Probleme sofort wieder auf, manchmal für einige Stunden gar verstärkt. Die Pharmazeutin Amrei Wittwer spricht in ihrem medikamenten-kritischen Buch «Warum ADHS keine Krankheit ist» in diesem Zusammenhang von Entzugserscheinungen, die mit AD(H)S-Symptomen verwechselt würden. «AD(H)S ist eine pädagogische Aufgabe, aber die Gesellschaft weigert sich, sie anzuerkennen», sagt Wittwer.
Nebenwirkungen von ADHS-Medikamenten
Hochproblematisch findet Wittwer aber vor allem die möglichen Nebenwirkungen, die bei der Einnahme von Stimulanzien und anderen AD(H)S-Medikamenten auftreten können. Am häufigsten leiden Kinder unter Appetitlosigkeit und (Ein-) Schlafstörungen. Es treten aber auch Übelkeit auf, Blutdruck und Herzfrequenz erhöhen sich, die Leber wird belastet und das Wachstum kann sich verzögern. Auch gibt es ein Risiko für Tics, Psychosen oder psychische Störungen wie Depressionen.
Eltern und Lehrpersonen beobachten zudem, wie sich die Kinder zwar plötzlich gut konzentrieren können, weniger stören und bessere Noten schreiben – aber auch viel ernster sind, kaum mehr lachen, als hätten sie ihre Fröhlichkeit verloren. Immer wieder fällt der Begriff des Zombies.
Stumpft Ritalin ab?
«Es ist wichtig, dass man die Medikamente gezielt einsetzt», sagt ADHS-Spezialist Urs Hunziker, «das heisst, man beschränkt es auf diejenigen Kinder, die es wirklich brauchen und ermittelt die kleinstmögliche Dosis, die gerade noch wirkt». Dazu ist eine Einstellphase nötig, während der die Rückmeldungen bezüglich der Veränderungen im Verhalten und Wohlbefinden durch das Kind selbst, die Eltern und Lehrpersonen äusserst wichtig sind.
Der Entwicklungspädiater fügt an, dass manche Nebenwirkungen nur in der Phase der Eingewöhnung auftreten, etwa Bauch- oder Kopfschmerzen. Studien hätten zudem gezeigt, dass die Jugendlichen den Wachstumsrückstand ausglichen, weil sich ihre Wachstumsphase verlängert. Doch auch Hunziker sagt: «Die Kinder können subjektiv ausgeglichener werden.» Ergänzt aber: «Wirken sie abgestumpft, ist das Medikament entweder falsch gewählt oder zu hoch dosiert.» Möglich sei auch, das Medikament situativ einzusetzen. «Bei der Einstellung muss es drei bis vier Monate lang dauerhaft genommen werden, aber danach kann es problemlos nur während des Unterrichts zum Einsatz kommen, wenn der Leidensdruck hauptsächlich in der Schule besteht», sagt Urs Hunziker.
Viele Kinder wollen Ritalin und Co. nicht mehr nehmen, wenn sie älter werden. Was sie am meisten stört: Dass ihr Hunger verschwindet. Und sie irgendwie nicht sich selbst sind, während das Medikament wirkt. Dass sie sehr fokussiert arbeiten können, sich aber gleichzeitig vorkommen wie eine Maschine und kaum wahrnehmen, was um sie herum passiert. «Ich wollte mich endlich wieder lebendig fühlen und will jetzt lernen, meine Schwierigkeiten ohne Chemie zu meistern», sagt ein 16-jähriger Schüler stellvertretend für viele.