Interview
«Was nicht sein darf, kann nicht sein»

«wir eltern»
wir eltern: Gewichtszunahme, kugelrunder Bauch, Kindsbewegungen – wie kann eine Frau eine Schwangerschaft nicht bemerken?
Sibil Tschudin: Das ist in der Tat ein Phänomen, über das auch wir Ärztinnen und Ärzte staunen. Es gibt verschiedene psychologische Erklärungen dafür, denen das Motto zugrunde liegt: Was nicht sein darf, kann nicht sein. Eine Frau, die die Pille nimmt oder mit dem Hormonstäbchen verhütet, geht davon aus, dass sie nicht schwanger werden kann. Und weil sie nicht damit rechnet, richtet sie ihr Augenmerk nicht auf die Symptome und Veränderungen, die auf eine Schwangerschaft hinweisen würden. Allerdings gibt es erst wenige Untersuchungen zu diesem Thema.
Was sind das für Frauen, die eine Schwangerschaft manchmal bis zur Geburt verdrängen oder verleugnen können?
Zum einen sind es Teenager-Mütter, die aufgrund fehlender emotionaler und intellektueller Reife nicht realisieren, was mit ihnen passiert. Zum andern sind es drogenabhängige Frauen, die derart beschäftigt sind mit den körperlichen Auswirkungen ihrer Sucht, dass sie das Sensorium für Schwangerschaftssymptome nicht haben. Die dritte und grösste Gruppe sind Frauen, auf die keines der genannten Merkmale zutrifft – lauter Einzelfälle mit ganz unterschiedlicher Geschichte. Oft sagen sie, Gewichtsschwankungen seien nichts Neues für sie, bei vielen sind die schwangerschaftsbedingten, körperlichen Veränderungen gering oder werden umgedeutet, Kindsbewegungen werden als Blähungen wahrgenommen. Es kann auch sein, dass eine Frau eine Vermutung hat, diese aber aus unterschiedlichen Gründen verdrängt, bei Migrantinnen etwa, wenn eine voreheliche Schwangerschaft nicht sein darf. Wir sehen nicht in die Frauen hinein.
Das Phänomen der negierten Schwangerschaft wird gerne mit mangelnder Bildung oder Intelligenz gleichgesetzt.
Da muss man vorsichtig sein. Sie tritt auch bei Akademikerinnen auf. Möglicherweise sind bei manchen Frauen in bestimmten Situationen gewisse psychische Mechanismen einfach stärker als der Intellekt.
Steckt eine psychische Krankheit dahinter?
Nicht unbedingt oder nicht in ausgeprägtem Mass. Untersuchungen zeigten, dass nur gerade fünf Prozent der Frauen mit negierter Schwangerschaft psychisch krank sind. Die psychische Strategie des Verdrängens oder Verleugnens ist jedoch ein gut bekanntes und häufiges Bild. Diese Frauen neigen dazu, unangenehme Dinge nicht wahrzunehmen, Problemen aus dem Weg zu gehen. Dies kann ein Charaktermerkmal sein oder auch nur punktuell auftreten.
Welche Funktion hat das Verdrängen?
Oft ist es ein Schutzmechanismus. Vielleicht hat man in der frühen Kindheit gelernt, dass man sich so vor Unangenehmem oder Verletzendem schützen kann.
Wie ist es zu erklären, dass der Partner die Schwangerschaft auch gegen deren Ende nicht richtig interpretiert?
Es ist anzunehmen, dass die Aufmerksamkeit des Partners seiner Frau gegenüber eher gering und die Beziehung eher distanziert ist. Aber es gibt auch andere Erklärungen. Vielleicht äussert der Partner sogar eine Vermutung, aber die Frau wehrt ab.
Manche dieser Frauen gehen sogar zum Arzt – und dieser merkt nichts von der Schwangerschaft. Wie erklären Sie das?
Man findet nur, wonach man sucht. Für uns Gynäkologinnen ist es nahe liegend, immer auch an die Möglichkeit einer Schwangerschaft zu denken. Bei Ärzten anderer Fachrichtungen steht das sicher weniger im Vordergrund, insbesondere, wenn die Patientin selbst in keiner Weise damit rechnet.
Welche Risiken für Mutter und Kind gehen mit einer unbemerkten Schwangerschaft einher?
Wenn eine Frau einigermassen gesund lebt, muss das Kind keinen Schaden nehmen. Aber wir wissen, dass Frauen, die während der Schwangerschaft keine Vorsorgeuntersuchungen haben, ein grösseres Risiko für mütterliche und kindliche Komplikationen haben und die Kindersterblichkeit erhöht ist. Es gibt auch Frauen, die nach unerkannter Schwangerschaft alleine zu Hause gebären und verständlicherweise völlig überfordert sein können mit dieser Situation.
Es muss ein Schock sein, unvorbereitet Mutter zu werden. Wie werden diese Frauen begleitet?
Es ist ein Schock, aber gleichzeitig auch eine Realität. Manche können diese rascher akzeptieren, andere sind auf psychologische Unterstützung angewiesen. Wir überprüfen die Situation der Frau und schauen, was sie und das Kind brauchen. Wenn das Umfeld bejahend und unterstützend ist, ist vielleicht gar nicht so viel nötig.
Heute spricht man viel von pränatalen Prägungen. Was bedeutet es für ein Kind, wenn die Mutter nicht wahrnimmt, dass es in ihr heranwächst?
Schwangerschaft und das ungeborene Kind werden durch eine Vielfalt von Emotionen geprägt. Man könnte sagen, dass im Fall einer verdrängten Schwangerschaft das Kind weder mit positiven noch mit negativen mütterlichen Emotionen konfrontiert wird. Ob und wie sich das auf das Kind auswirkt, darüber können wir nur spekulieren. Klar ist: An der Vergangenheit lässt sich nichts mehr ändern. Entscheidend ist somit vor allem, wie sich die Mutter-Kind-Beziehung in der Zukunft entwickeln kann.
Dieses Interview wurde im Januar 2011 in «wir eltern» publiziert.

Dr. Sibil Tschudin ist Leiterin ad interim der Abteilung für gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik an der Frauenklinik des Universitätsspitals Basel. Dass eine Frau bis zur Geburt nichts von ihrer Schwangerschaft merkt, kommt in der Frauenklinik Basel etwa einmal im Jahr vor.