Immigration
Wir sollten unverkrampfter werden

Davide Caenaro
Gespräch mit Prof. Dr. Andrea Lanfranchi von der HfH*
Professor Dr. Andrea Lanfranchi war Realschullehrer, bevor er Psychologie, Sonderpädagogik und Kinderpsychopathologie studierte. Heute ist er Dozent und Forscher an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (www.hfh.ch) sowie Lehrtherapeut und Supervisor im Team des Ausbildungsinstituts Meilen, Systemische Therapie und Beratung (www.ausbildungsinstitut.ch). Er ist im Editorial Board der Zeitschriften «Familiendynamik» sowie «Frühförderung Interdisziplinär».
wir eltern: Wir freuen uns zu Recht über die Geburten ausländischer Kinder, weil sie zur Sicherung der AHV beitragen. Gleichzeitig aber tun wir uns schwer mit ausländischen Familiennamen. Wieso?
Prof. Dr. Andrea Lanfranchi: Hierzulande gibt es viel Offenheit gegenüber Fremden und gleichzeitig Abwehr. Ängste nehmen dann zu, wenn ein Land Probleme hat mit seiner Identität. Die Schweiz steckt in einer schwierigen Situation gegenüber der EU und den USA, das verunsichert.
Es gibt Menschen, die aus politischen Gründen in die Schweiz flüchten.
Tatsächlich nimmt die Zahl der Asylsuchenden aus politisch-religiösen Gründen zu. Im Vergleich zu den angeworbenen Arbeitsmigranten ist das aber eine Minderheit.
Was passiert mit den Immigrantenkindern?
Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Die Familie und die Schule tun ihr Bestes, dass sie in dieser Gesellschaft Fuss fassen. Schwierig ist dies, wenn die Eltern selber Probleme haben mit der Integration. Die Schweiz kennt erst seit 10 Jahren eine Integrationsverordnung, die wir notabene erst seit Kurzem anwenden. Das Ausländergesetz von 2006 verlangt eine Zulassungsbeschränkung, um den sozialen Frieden zu erhalten.
Wie lautet Ihr Lösungsvorschlag?
Ich bin für die kontrollierte Einwanderung von mehrheitlich qualifizierten Personen. Die Schule ist in der Vergangenheit fast kollabiert wegen Problemen, die stark mit der hohen Einwanderungsrate von wenig qualifizierten Menschen zu tun haben. Wenn eine Mehrheit der Migranten aus Ländern mit ungünstigen Bildungsvoraussetzungen kommen, gibt es Schwierigkeiten.
Was bedeutet das für die Kinder?
Wenn die Eltern schnell und gut ankommen, schaffen es auch die Kinder mit links. Wir sollten unverkrampfter werden: Einreisende müssen kurz nach ihrer Ankunft begrüsst werden und die nötigen Informationsmaterialien erhalten. Für Familien mit offensichtlichen Startproblemen plädiere ich für individuelle Beratungsgespräche.
Wie beeinflusst die Politik den Alltag dieser Kinder?
Familien müssen in einem würdigen Rahmen leben. Eine eritretische Familie mit zwei kleinen Kindern darf nicht in einer Küche wohnen, wie ich kürzlich gesehen habe. In der Küche einer Wohnung, das muss man sich vorstellen. Die schlafen seit mehr als sechs Monaten auf dem Küchenboden. Das WC teilen sie sich mit anderen Familien, die auch dort leben. Die Sozialarin beiterin sagt, sie fände keine andere Wohnmöglichkeit für Asylbewerber. In der Präambel der Bundesverfassung steht: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.»
Was bedeutet dies für Nachbarn von ausländischen Familien, für Spielgruppenleiterinnen, Lehrpersonen usw.?
Nachbarn können sich engagieren oder nicht. Wir müssen nicht alle befreundet sein. Von Fachleuten können wir erwarten, dass sie sich professionell verhalten. Sie müssen eine kultursensible Haltung aufweisen und kompetent handeln. In jeder Gemeinde braucht es Notwohnungen, die Familien ermöglichen, die Zeit bis zur Abklärung ihres Asylgesuches in Würde zu verbringen.
*ZEPPELIN: Zürcher Equity Präventionsprojekt Elternbeteiligung und Integration
ZEPPELIN ist ein Kooperationsprojekt der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) und der Bildungsdirektion des Kantons Zürich (AJB). Es handelt sich um frühe Förderung ab Geburt für 250 Familien in verschiedenen Gemeinden rund um den Zürcher Flughafen. Anhand des Hausbesuchsprogramms «PAT – Mit Eltern lernen» werden die Eltern von speziell ausgebildeten Mütterberaterinnen darin unterstützt, dass sich ihre Kinder gut entwickeln. Ziel ist, dass die Kinder später möglichst problemlos in die Schule eintreten und einen guten Schulabschluss erreichen.
www.zeppelin-hfh.ch
Worum geht es beim Projekt ZEPPELIN?
Da geht es um Prävention für entwicklungsgefährdete Kinder. Unmittelbar nach einer Geburt werden Familien in psychosozialen Risikosituationen von Mütterberatungsstellen erreicht. ZEPPELIN ist ein Hausbesuchsprogramm: Die Hausbesucherinnen gehen 14-täglich direkt zur Familie und unterstützen die Eltern in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder.
Ich kenne eine junge ausländische Mutter mit zwei Kleinkindern, die kein Deutsch spricht. Was kann ZEPPELIN für diese Familie tun?
Die Fachperson nimmt eine interkulturelle Übersetzerin mit und begleitet die Familie während drei Jahren. Sie baut eine Vertrauensebene auf und motiviert die Mutter etwa zu einem Deutschkurs. Monatlich treffen sich bei ZEPPELIN rund zehn Familien zum Austausch. So entsteht Vernetzung. Eltern lernen am meisten von anderen Eltern.
Ist ein Stück gesunde soziale Unterstützung, und auch Kontrolle verloren gegangen?
Die Isolation fängt schon früher an: Manche eingewanderte Frau ist vor und nach der Geburt allein. Im Heimatland wäre eine Geburt ein kollektives Ereignis. Das ist ein wichtiger Punkt: Die Grossmütter und Freundinnen sind hier oft nicht vorhanden. Sie gilt es – auf Zeit, wohlverstanden – zu ersetzen.
Sowohl die Flüchtlings- als auch die gut situierte Familie müssen auf schweizerische Eigenheiten hingewiesen und integriert werden. Auf eine Flüchtlingsfrau geht man eher zu als auf eine voll berufstätige Mutter ...
Für jeden dieser Kontexte gibt es individuelle Lösungsansätze. Einreisungswillige müssten vor der Einreise die nötigen Infos haben und bereits etwas Deutsch können. All dies läuft nun an. Bei ZEPPELIN nimmt man ausschliesslich Familien auf, die in der Schweiz bleiben können. Wenn von vornherein klar ist, dass eine Familie wird ausreisen müssen, kann sie nicht mitmachen. Das ist eine simple Kosten- Nutzen-Rechnung.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Welcher wäre das?
Dass interdisziplinäre Unterstützungssysteme von Anfang an kooperieren: Das heisst, dass Mütterberaterinnen, Kinderärzte, Hebammen, später Krippenleiterinnen und Kindergärtnerinnen zusammenarbeiten. In Ansätzen gelingt dies schon bei ZEPPELIN: Es gibt eine sogenannte Bildungspartnerschaft. Einheimische, gut vernetzte und gebildete Familien brauchen dieses System meist nicht. Aber manchmal sind auch solche Familien in Not. Die traditionellen Mütterberatungsstellen bieten universelle Prävention. Sie gehören zu den besten Einrichtungen, die wir kennen.