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Gesellschaft
Plädoyer für Kinder
Familie und Job unter einen Hut zu bekommen, ist für alle eine Herausforderung. Klar, es braucht auch mehr Kitas. Aber wollen die Kinder überhaupt dorthin? Ein Plädoyer für eine Vereinbarkeit, die auch die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt.
Ich wünsche mir, wir wären Jäger und Sammler. Oder Jägerinnen und Sammlerinnen. Nicht, dass ich gerne Tiere jagen möchte. Oder in einer kargen Behausung leben. Aber die soziale Organisation der Jägerund-Sammler-Gesellschaften, die würde ich gerne übernehmen. Warum? Weil sie sich Arbeit - sprich Nahrungsbeschaffung - und Kinderbetreuung aufteilen. Zwischen den Geschlechtern und in der Gruppe.
Lange Zeit ging man davon aus, dass die Männer jagten, die Frauen sammelten und sich um die Kinder kümmerten. Neuere Studien deuten jedoch darauf hin, dass Frauen ebenfalls auf die Jagd gingen. Auch in 80 Prozent der wenigen modernen Jäger-und-Sammler- Gesellschaften, die es noch gibt, erlegen Frauen Tiere. Eine Studie, die bei einer Gemeinschaft in der Republik Kongo durchgeführt wurde, zeigt, dass die Kleinen zu 40 bis 50 Prozent von den Vätern, älteren Kindern oder anderen Personen aus der Gruppe betreut werden. Bis zu 20 Personen kümmern sich dort um ein Baby.
Natürlich lässt sich dieser Lebensstil nicht einfach auf unsere komplexen westlichen Gesellschaften übertragen. Doch was mich stört: Die Bedürfnisse der Kinder gehen in der Diskussion um Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu oft vergessen. Die Wirtschaft leidet unter Fachkräftemangel und will die Mütter in möglichst hohen Pensen im Arbeitsmarkt sehen. Wollen Frauen ihren Beruf nach der Geburt nicht aufgeben, ist das häufig nur dann möglich, wenn sie hochprozentig arbeiten. Und auch die Väter wollen oder sollen weiterhin in hohen Pensen arbeiten. Und die Kinder? Für sie sind Kita oder Hort vorgesehen.
Es soll hier nicht darum gehen, ob die ausserfamiliäre Betreuung für die kindliche Entwicklung schädlich oder förderlich ist. Auch soll dies kein Frauen-zurück-an-den-Herd- Text sein. Im Gegenteil. Vielmehr treibt mich die Frage um, wie eine Vereinbarkeit gelingen kann, die auch die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt. Die es beiden Elternteilen ermöglicht, einen guten Job zu haben, ohne dass die Kinder viel Zeit in einer Institution verbringen müssen. Denn ich stelle fest: Viele Kinder gehen - zumindest phasenweise - nicht gerne in die Kita oder in den Hort. Klar, sie gewöhnen sich daran oder finden sich damit ab, haben nach anfänglichem Weinen oder Murren Spass. Könnten sie jedoch wählen, bin ich mir sicher, dass die meisten lieber in ihrem Umfeld betreut würden.
Manche Kinder verlassen täglich frühmorgens das Haus und kehren erst abends wieder heim - so, als wären sie bereits berufstätig.
Skandinavische Länder gelten bezüglich ausserfamiliärer Betreuung als Vorbild: Dort besuchen die Kinder in der Regel etwa ab einjährig die Kita, zuvor sind sie dank Elternzeit zu Hause. Und: Die Eltern holen sie mehrheitlich um 15 oder 16 Uhr ab. Hierzulande sind die Kleinen oft bis vor dem Abendessen in der Betreuung. Zeit und Raum für Rückzug, um zu Hause zu spielen, um mit Freund:innen abzumachen und unbeaufsichtigt draussen zu sein, bleibt wenig. Gerade Letzteres hat in der heutigen Zeit kaum mehr Platz, ist jedoch für die gesunde Entwicklung der Kinder enorm wichtig. Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2023 zeigt einen Zusammenhang zwischen freien Aktivitäten der Kinder und deren psychischer Gesundheit: Das Fehlen unbeaufsichtigten Spielens ist einer der Gründe für die Zunahme von psychischen Krankheiten von Kindern und Jugendlichen. Während der 1970er-Jahre verbrachten Kinder in der Schweiz täglich drei bis vier Stunden draussen, heute sind es gerade mal noch 32 Minuten.
Dies hat eine Studie der Stiftung Pro Juventute 2016 ermittelt. Jedes dritte Kind zwischen 5 und 9 Jahren darf gar nicht unbeaufsichtigt draussen spielen. Natürlich hängt das nicht nur mit dem Hort zusammen, sondern auch mit anderen Faktoren wie fehlenden kindgerechten Aussenräumen, Zunahme des Verkehrs, der Ängstlichkeit mancher Eltern oder dem sonst durchgetakteten Alltag der Kinder.
Wie könnten wir also den Kindern trotz Berufstätigkeit wieder mehr Zeit schenken? Ein Umdenken ist nötig. Gesamtgesellschaftlich, aber auch in den Köpfen der Eltern. Eltern brauchen Teilzeitarbeit, flexible Arbeitszeiten, Homeoffice für Bürojobs. Und noch wichtiger: Jobsharing. Wer heute keinen Karriereknick hinnehmen will, muss hochprozentig arbeiten. Führungspersonen oder Mitarbeitende mit viel Verantwortung müssen jederzeit verfügbar sein, ist die gängige Meinung. Das mag sein, aber weshalb teilen wir diese Stellen nicht auf zwei Personen auf? Für Väter würde es ungleich attraktiver, CareArbeit zu leisten, wenn sie karrieretechnisch keine Einbusse befürchten müssten. Teilzeitarbeit und Jobsharing bieten auch für Arbeitgebende Vorteile: Höhere Zufriedenheit, Motivation und Produktivität der Mitarbeitenden oder mehr Innovationsstärke sind nur einige davon.
Klar, das Modell benötigt gute Kommunikation und kostet Arbeitgebende etwas mehr. Auch mag es angesichts des Fachkräftemangels nicht immer einfach sein, zwei qualifizierte Mitarbeitende für eine Stelle zu finden. Ich vermute jedoch, dass häufig wenig Effort geleistet wird, um traditionelle Strukturen aufzubrechen. Aber sollten uns das unsere Kinder nicht wert sein? Als Gesellschaft tragen wir für das Aufziehen der Kinder gemeinsam Verantwortung. Genauso wie für das Betreuen betagter Menschen.
Veränderungen in der Arbeitswelt würden es Eltern erleichtern, Erwerbs- und Care-Arbeit unter einen Hut zu bringen. Wir sollten jedoch auch das enge Korsett der Kleinfamilie aufbrechen. Diese ist erst mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden. Bis dahin lebten wir in Grossfamilien.
Heute wollen die wenigsten mit den Eltern oder anderen Verwandten unter einem Dach leben. Unser Lebensstil ist individualisiert, wir wollen unsere eigenen Entscheidungen treffen, niemand soll uns reinreden. Jede Familie wurstelt mit mehr oder weniger Unterstützung für sich. Was immer möglich ist, wird an (eher schlecht) bezahlte Arbeitskräfte ausgelagert. Das Putzen, die Kinderbetreuung. Das Wursteln hat seinen Preis. Rundherum höre und lese ich von gestressten Eltern, von Eltern-Burn-outs. Wer am Ende darunter leidet, sind die Kinder.
Die Last auf mehrere Schultern zu verteilen, würde also allen helfen. Dafür müssen wir auch hier umdenken, toleranter gegenüber anderen sein, eine fünf mal gerade sein lassen. Der Grossvater hat das Kind wieder länger als vereinbart fernsehen lassen? Die Nachbarin hat dem Baby gekauften statt selbst gemachten Brei gegeben? Vermutlich schadets dem Kind weniger als dauergestresste Eltern, die am Rande eines Burn-outs stehen, weil sie alles selbst managen wollen.
Zu Jobsharing und Teilzeitarbeit bereit sein müssten allerdings auch die Eltern. Finanziell bedeutet das eine Einbusse. Mir ist klar, dass sich dies längst nicht alle leisten können. Doch sind wir ehrlich: Bei manchen Doppelverdienern mit hohen Pensen geht es nicht darum, wie sie Miete, Krankenkasse oder Lebensmittel zahlen können. Sondern den Zweitwagen, die Ferien im fernen Ausland oder die Markenkleider. Alles würde nicht mehr drin liegen. Dafür mehr Zeit mit den Kindern.
Das Gute daran: Davon profitiert nicht nur der Nachwuchs. Mehr Zeit in die Familie zu investieren, macht einen auch selbst glücklicher. Die Glücksforschung belegt: Beziehungen sind die grösste Glücksquelle. Wie die Sterbebettforschung zeigt, bereut am Lebensende niemand, zu viel Zeit mit der Familie und Freunden verbracht zu haben. Doch viele – insbesondere Männer – bereuen, zu viel gearbeitet zu haben.
«Um ein Kind grosszuziehen, braucht es ein ganzes Dorf», besagt ein afrikanisches Sprichwort. Damit das klappen kann, müssen wir miteinander sprechen – und noch wichtiger: einander zuhören. Es braucht aber auch neue Wohnformen und -räume. Als Vision stelle ich mir Mehrfamilienhäuser oder Überbauungen vor, die neben kindgerechten Aussenräumen auch über Gemeinschaftsräume verfügen: Familien betreuen dort ihre Kinder im Turnus, bieten zum Beispiel Mittagstische an. Wenn die Horde Kinder nicht die eigenen vier Wände auf den Kopf stellt, ist das ungleich attraktiver. Vielleicht helfen so ja auch die pensionierten Nachbar:innen mit? Später können sie sich dort zum Jassen oder zum Kaffeetrinken treffen. Das schafft gleich auch der zunehmenden Einsamkeit im Alter Abhilfe. Im Gegenzug unterstützt sie die jüngere Generation bei Problemen mit Handy und Co. oder bei körperlich anstrengenden Arbeiten. Mehr miteinander – das wünsche ich mir. So, wie bei den Jäger:innen und Sammler:innen. Wir sollten jetzt damit beginnen, Arbeit und Kinderbetreuung als gemeinsame Verantwortung zu sehen. Unter den Geschlechtern und als Gesellschaft. Damit unsere Kinder gesund aufwachsen können. Damit sie dereinst als Eltern nicht in demselben Hamsterrad strampeln wie wir. Damit es wieder wünschenswert wird, Kinder zu haben. Denn mit 1,33 Kindern pro Frau war die Geburtenrate noch nie so tief wie 2023. 2,1 Kinder pro Frau bräuchte es, um die Schweizer Bevölkerung zu erhalten. Profitieren würden am Schluss alle.