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Entwicklungsstufen
Vorlesen!
Lesen ist das Tor zur Welt. Lesen können bedeutet Teilhabe im Alltag, in der Schule, dem Beruf und der Gesellschaft. Dennoch lesen Kinder und Jugendliche immer weniger. Wir haben die Expertin Anne-Friederike Heinrich gefragt, was Eltern dabei tun können. Sie sagt: «Sehr viel!»
Entwicklungsstufe 3 Jahre:
Wann ist der beste Zeitpunkt, bei kleinen Kindern die Lust an Büchern, Geschichten, Sprache und Bildern zu wecken? «Im besten Fall mit dem ersten Atemzug», sagt Anne-Friederike Heinrich, Sprachwissenschaftlerin und Kinderbuchautorin.
Schlaf, Kindchen schlaf, der Papa hütet Schaf, die Mama schüttelts Bäumelein ... » Egal in welcher Sprache und mit welchen Liedern wir Babys in den Schlaf wiegen, sie beruhigen, wenn sie weinen, ihnen in schönen Momenten etwas vorsingen. Der Grundstein zu Bildern, Geschichten, Melodien, zur Fantasie wird bereits hier gelegt. Schon früh entstehen mit Liedern und kleinen Reimen Bilder im Kopf, alle individuell, alle voller Fantasie. Schon mit kleinsten Kindern könnt ihr Bücher mit einfachen Bildern anschauen und vorlesen. Ein Schaf, ein Hund, ein Küken, die Tierlaute nachmachen. Es wird nicht lange dauern, bis die Kinder auf die Bilder zeigen und die Laute nachahmen. Kinder lieben in der Regel schöne, gemeinsame Auszeiten mit Mama oder Papa, in denen sie Aufmerksamkeit und spannende Geschichten erzählt bekommen. Noch mehr, wenn diese zum festen Ritual werden. Schon früh wissen Kinder sehr gut, was sie interessiert. Vielleicht sind gerade Baumaschinen spannend? Oder Dinosaurier? Feen oder das Rotkäppchen? Dann ist ein Besuch in der Bibliothek spannend, in der Bücher selbst ausgewählt werden können. «Bücher fördern Empathie, Mitdenken, Mitfühlen, sich in andere Menschen und Tiere hineinversetzen zu können», sagt Anne-Friederike Heinrich. Zudem fördern Geschichten den Spracherwerb und die Gesprächskultur in der Familie.
Kein Talent nötig
Wer jetzt sagt, ich kann gar nicht gut vorlesen und Geschichten erzählen: Das macht nichts. Es braucht keine Inszenierungen, ihr müsst nicht brillieren, schauspielern oder euch verstellen. Kinder lieben es ganz einfach, mit der Stimme von Mama und Papa in Fantasiewelten abzutauchen. Sie verinnerlichen die Geschichten förmlich. «Es ist eine grosse Freude und ein unbändiges Glück, einfach vom Sofa aus durch einen duftenden Wald zu tollen oder sich wie ein Fisch durch die buntesten Korallenriffe schlängeln zu können – alles Kraft der eigenen Vorstellung, ausgelöst durch Worte und Sätze. Dieses Geschenk darf keinem Kind vorenthalten werden», sagt Heinrich.
• Rituale: Schöne, ruhige Momente gestalten, einkuscheln auf dem Sofa, dem Sessel oder im Bett vor dem Schlafengehen.
• Spass: Lieder singen, Reime und Verse aufsagen.
• Draussen: Vorlesen kann man überall, im Tram, auf der Parkbank, auf dem Spielplatz. • Kreativität: malen, kritzeln, zeichnen.
• Kommunikation: reden, zuhören, antworten, beobachten, beschreiben, diskutieren, Babysprache möglichst vermeiden, in der Muttersprache sprechen.
• Medien: Podcasts, Hörbücher, Apps.
• Kultur: Bibliotheken, Buchshops, öffentliche Lesungen, Theater.
• Geschenkt: Buchstart schenkt allen neuen Erdenbürger:innen ein Buchstart-Paket mit zwei Bilderbüchern und einem Kinder-Bibliotheksausweis.
• Infos in verschiedenen Sprachen unter: buchstart.ch
Entwicklungsstufe 6 Jahre:
Mit dem Eintritt in den Kindergarten und die Schule bekommen Bücher, Geschichten und das Lesen einen anderen Stellenwert. Wie können wir unsere Kinder in dieser Phase gut begleiten? Und wo sind unsere Grenzen?
Während viele Eltern kleinen Kindern Geschichten erzählen und vorlesen, wird das laut «Stiftung Lesen» in den folgenden Jahren zunehmend vernachlässigt. Kindern zwischen fünf und sieben Jahren werde selten bis nie vorgelesen. Und das gerade in einer Phase, in der Kinder lesen lernen. Es würde sich lohnen, das Ritual des Vorlesens bis weit ins Grundschulalter weiterzuführen. Eltern und Kinder können auch abwechselnd lesen, einen Satz die Eltern, einen Satz das Kind. Oder abschnittweise. Das macht Spass und ist gleichzeitig ein gutes Training. Denn das Lesenlernen ist komplex und kann schnell frustrieren. Sicher ist es schon mal ein Vorteil, wenn Eltern dafür sorgen, dass Kinderbücher immer vorhanden sind. Und auch, wenn Eltern selber lesen. «Denn wer Bücher liebt, überträgt seine Bücherliebe wenigstens ein Stück weit auf seine Kinder. Wer Fussball liebt, steckt mit seiner Leidenschaft genauso seine Kinder an. Kinder lernen durch Vorbilder und Beobachtung», sagt Anne-Friederike Heinrich und fügt an, dass sich jedoch nichts erzwingen lasse. Wichtig: Kinder selbst den Lesestoff aussuchen lassen, sie haben vielleicht nicht unbedingt Mamas oder Papas Geschmack. «Es muss nicht der 800-seitige Roman sein. Auch ein Autofachbuch, eine Ballettzeitschrift oder ein Fussballmagazin sind Lesestoff. Warum nicht eine Graphic Novel oder ein Manga? Wichtig ist doch das Eintauchen in eine andere Welt durch die Kraft der eigenen Vorstellung», so Heinrich. Sie stehe auf dem Standpunkt: Wenn jemand nicht gern liest, hat er bisher vielleicht nicht die richtigen Bücher gefunden.
Kein Druck, kein Stress
Es lohne sich auf jeden Fall, dranzubleiben und nicht müde zu werden auf der Suche nach dem Lesestoff, der packt. Das zahlt sich sicher aus. Wichtig dabei: «Geht entspannt um mit dem Thema. Kinder sind Anarchisten, sie lassen sich nicht zwingen. Betrachtet es als spannende Herausforderung, Lesestoff zu finden, der eure Youngsters begeistert.» Wichtig ist auch, Raum zum Lesen zu schaffen: «Kinder sind heutzutage ziemlich verplant, genau wie ihre Eltern. Es liegt so nahe, wenn Mama noch ein paar Mails beantworten muss und Sohnemann langweilig wird und stört, das Gamen zu erlauben. Nein. Erst muss Langeweile entstehen, damit neue Ideen keimen können», so Heinrich. «Das durchzustehen, ist manchmal etwas anstrengend, geht aber vorüber. Meinen Kindern kommen nach Langeweile-Phasen meistens die besten Ideen. Oft sehe ich, dass ein aufgeschlagenes Buch einen Impuls dazu gegeben hat.»
Was, wenn man das Vorlesen und die Lesekultur bisher nicht gelebt und verpasst hat? «Einfach anfangen. Es gibt kein zu spät. Wenn man früh beginnt, seine Kinder für Bücher zu interessieren, ist es natürlich einfacher, als wenn man seinem Neunjährigen auf einmal eröffnet, dass man jetzt jeden Abend mit ihm lesen möchte», so Heinrich. Aber eben: Zusammengekuschelt auf dem Sofa wieder Lesestunden einführen ist einfach schöner als allein. Und geteilte Leidenschaften sind nun mal einfach spannender. So wie beim Fussball. Auf diese Weise behält man auch weiterhin einen schönen Einblick in die Lebens- und Fantasiewelten der Kinder.
• Zeit zu zweit: Raum zum Lesen schaffen und sich Zeit nehmen, mit den Kindern gemeinsam zu lesen.
• Motivation: Kinder Bücher aussuchen lassen. In der Bibliothek ausleihen oder kaufen, selber ein Buch zu besitzen kann die Motivation steigern.
• Medien: Bücher mit viel Text oder kleiner Schrift wirken oft abschreckend. Kein Kind ist «zu gross» für Bilderbücher oder Comics. • Podcasts, Hörbücher, Apps.
• Kreativität: malen, kritzeln, zeichnen.
• Kommunikation: viel reden, zuhören, antworten, beobachten, beschreiben, diskutieren, in der Muttersprache kommunizieren.
• Kultur: Bibliotheken, Buchshops, öffentliche Lesungen, Theater.
Entwicklungsstufe 12 Jahre:
Teenager haben oft andere Interessen, als sich in ein gutes Buch zu vertiefen. Das darf sein. Denn ist das Fundament gelegt, kehren sie irgendwann wieder zum Lesen zurück. Vorbild sein und selber lesen!
I n dieser Altersgruppe nimmt das Interesse an Büchern ganz natürlich ab, weil anderes spannender wird», sagt AnneFriederike Heinrich. «Das gilt vor allem für Jungen. Mädchen greifen neuerdings zur boomenden Young-Adult- und YoungRomance-Literatur; es gibt etliche jugendliche Buchbloggerinnen, die auf TikTok ihre Leseerfahrungen teilen.» Diesen Boom findet Heinrich zwar toll. «Trotzdem sehe ich TikTok sehr kritisch, weil es auch sehr viele negative Seiten hat – die mit Büchern gar nichts zu tun haben.» Und trotzdem sollte man Neues, Unerprobtes nicht grundsätzlich verteufeln, einfach, weil man es nicht oder noch nicht versteht: «Ich bin für einen kritischen, aber ergebnisoffenen Umgang mit neuen Medien. Vielleicht zeigen uns die jungen Lesenden bald weitere Kanäle, über die sie sich fürs Lesen begeistern können und auf die wir alten Hasen gar nicht gekommen wären. Hauptsache, es geht ums Lesen.»
Die Verknüpfung des Lesens mit der Lebenswelt der jungen Menschen ist zentral. «Es könnte sich also lohnen, mit dem Teenager gemeinsam auf eine Buchmesse zu fahren und zu schauen, was ihn oder sie anspricht. Der Eventcharakter dabei ist nicht zu unterschätzen.» Auch Rituale können helfen. «Wenn sonntags die ganze Familie gemeinsame Lesezeit teilt, greift vielleicht auch das Pubertier zum Buch oder Heftli», so Heinrich. Bei ihr daheim liegen in fast jedem Raum Bücher, Hefte oder die Zeitung herum. Denn Lesen ist überall möglich: in Häppchen oder ganzen Geschichten, wie es gerade passt. Lesbares muss greifbar sein. Es hilft also, wenn ein Jugendlicher sein Umfeld, Mutter, Vater, Geschwister, zuweilen beim Lesen sieht. «Aber bitte, werft euch nicht immer mit einem Buch aufs Sofa, wenn euer Dreizehnjähriger hereinkommt», scherzt sie. Wichtig ist auch, die Handy- und Tabletzeit genau zu portionieren. «Nase aus dem Bildschirm ! Langeweile muss entstehen können, damit ein Buch überhaupt relevant wird.» Handy und Co. sollten über gewisse Zeitabschnitte aus dem Alltag junger Menschen verbannt werden. «Zum Beispiel abends. Ab 19 Uhr ist das Handy aus und Töchterchen kann gerne noch im Bett ein paar Seiten lesen, wenn es noch nicht schlafen mag. Wenn man solche Pfosten früh genug einschlägt, sollten sich solche Rituale durchsetzen können. Dann ist es auch kein Problem, wenn Jugendliche vielleicht lieber auf einem Kindle lesen, als in Papier zu blättern.»
Kein Zwang
«Bleibt ehrlich und authentisch und lasst zu, dass euer Kind eine andere Meinung hat als ihr. Ist das Fundament in früheren Jahren gelegt, wird das Kind ganz von selbst irgendwann wieder seine Nase in ein Buch stecken.» Und last, but not least: «Bei allem, was man unternimmt, um Kinder für Bücher zu begeistern, sollte nicht vergessen werden, dass es sich um Leseförderung handelt, nicht um Leseverordnung oder Lesezwang.» Der beste Weg, Kinder davon abzuhalten, auf Bäume zu klettern, sei, sie dazu aufzufordern. Und wer sie vor den «falschen Freunden» warne, habe nahezu eine Garantie, dass der Teenie genau mit diesen Kindern wird abhängen wollen.
«Also greift selbst mit Sonne im Herzen ab und zu nach Lesestoff und seid schönes Vorbild. Besser kann man es kaum machen.»
• Vorbild: Selber lesen, Bücher, Magazine, Zeitungen rumliegen lassen.
• Motivation: Eine Buchmesse besuchen, das hat Eventcharakter.
• Medien: Alles, was dem Jugendlichen gefällt, selbst wenn man es selber nicht mag. Podcasts, Hörbücher, Apps, Tablets, Kindle, soziale Medien.
• Kommunikation: viel reden, zuhören, antworten, beobachten, beschreiben, diskutieren, in der Muttersprache kommunizieren.
• Kultur: Bibliotheken, Buchshops, öffentliche Lesungen, Theater.
Agenda 2. Juli 2025
#Hergamesculture, Anstoss – Sport trifft Literatur; 13–17 Uhr; Spiele und Lesungen für Kinder und Jugendliche zur FrauenFussballeuro 2025: Infos unter: autillus.ch/hergameculture-anstosssport-trifft-literatur/
14. November 2025
Schweizer Erzählnacht, Motto Zeitreise; Infos unter sikjm.ch
28. Februar 2026
Kinder lesen, Kinder- und Jugendbuchfestival in Zürich; 9.30–16 Uhr; Kinder können Schreibende und Illustrierende persönlich kennenlernen; Infos unter kinderlesen.ch
Diverses
Lesezirkel, Buchclubs, Lesungen für Kinder und Jugendliche, online zu finden.
Anne-Friederike Heinrich ist Kinderbuchautorin, Journalistin und Gründerin von «Kinder lesen», dem Kinderund Jugendbuchfestival in Zürich sowie Vorstandsmitglied von Autillus, Kinderund Jugendbuchschaffende Schweiz. Sie ist Mama von zwei Söhnen und lebt mit ihrer Familie in Zürich.
kinderbuch-afheinrich.com