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Monatsgespräch
Was ist eine gute Schule?
Von Samantha Taylor
Wohin entwickelt sich die Schule? Geht es nach Philippe Wampfler, dann wird sie vor allem demokratischer und individueller. Der Autor und Lehrer hat ein Buch geschrieben mit dem Titel «L'ecole c'est moi». Wie er sich die Zukunft der Schule vorstellt, erklärt er im Interview.
Philippe Wampfler, gingen Sie gerne zur Schule?
Die ersten Jahre hatte ich Mühe. Ich fand es schwierig, mich in den sozialen Rahmen zu integrieren. Vermutlich hätte ich mehr Einszu-Eins-Betreuung gebraucht. Mit der Zeit ging es besser und ab der Oberstufe ging ich richtig gerne zur Schule.
Sie fordern, dass die Schule das Lernen und die Schüler:innen ins Zentrum rücken soll. Was steht denn heute im Fokus?
Während der Pandemie ist mir aufgefallen, dass die Schule für viele Eltern ein Ort ist, an dem sie die Kinder abgeben können, um zu arbeiten. Die Schule löst ein Betreuungsproblem. An zweiter Stelle soll sie die Kinder auf die nächsten Schritte vorbereiten. Beispielsweise auf die Gymiprüfung oder allgemein den Übertritt in die Oberstufe.
Aber bei dieser Vorbereitung geht es doch ums Lernen.
Nein, das Lernen selbst ist sekundär. Zentral sind die intakten Zukunftschancen. Die Schule soll die Kinder optimal auf die Berufswelt einstimmen. Diese Erwartung prägt die Schule entscheidend.
Schlüsseln wir den Begriff Lernen auf: Was bedeutet Lernen?
Lernen heisst zu schauen, wo ein Kind steht, wo es hin möchte und ihm jene Unterstützung anzubieten, die es braucht, um dorthin zu kommen. Das ist ein individuelles Vorgehen. Im heutigen Schulsystem ist der Lernbegriff hingegen stark standardisiert.
Was heisst das?
Es gibt festgeschriebene Kompetenzen – beispielsweise sprachliche oder mathematische Fähigkeiten – die als wichtig gelten und die alle zu einer bestimmten Zeit beherrschen müssen. Häufig haben sie wenig mit der persönlichen Entwicklung oder dem sozialen Zusammenleben zu tun. Als Kompetenzen gelten vor allem Dinge, die man auf einem Blatt Papier lösen kann.
Können Sie ein Beispiel machen?
Heute müssen Schüler:innen bis Ende der vierten Klasse schriftlich rechnen können. Manche Kinder sind von ihrer Entwicklung her aber nicht an einem Punkt, an dem sie solche Aufgaben lösen möchten. Das Thema ist ihnen nicht wichtig. Vielleicht möchte sich ein Kind lieber weiter mit dem Thema Schmetterlinge beschäftigen, das im Unterricht behandelt wurde. Es will sich vertiefen. Damit es aber das vorgeschriebene Lernziel erreicht, muss es die Schmetterlinge sein lassen und rechnen.
Mit anderen Worten: Kinder sollten in der Schule mehr machen können, worauf sie Lust haben?
Ich bin der Meinung, die Schule sollte weniger standardisierte Stoffvermittlung betreiben. Sie sollte Schüler:innen vermehrt ermutigen, ihre Interessen zu spüren und diesen nachzugehen. Vor allem in der Oberstufe ist die Individualität noch nicht sehr präsent. Das führt aus meiner Sicht dazu, dass immer mehr Schüler:innen schulmüde sind.
Aber gewisse Grundlagen müssen alle beherrschen, oder nicht?
Natürlich müssen sich Schüler:innen auch mit Aufgaben befassen, die sie nicht so spannend finden, die aber für ihre Zukunft wichtig sind. Die meisten verstehen das übrigens und können sich auch für diese Bereiche motivieren. Die Angst, dass bei mehr Freiheit und weniger Standard Kinder gewisse Dinge gar nicht lernen, ist unbegründet.
Fehlt unserem Schulsystem, aber auch Eltern, das Vertrauen in den Lernwillen der Kinder?
Ein bisschen wohl schon. Und es fehlt vor allem das Vertrauen in die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung. Im Kleinkindalter – das wissen die meisten – entwickeln sich Kinder unterschiedlich. Manche laufen mit 11, andere mit 18 Monaten. Wann ein Kind läuft, spielt auf lange Sicht keine Rolle. Später ist es nicht anders: Nicht jedes Kind kann im selben Alter eine Gleichung auflösen. Und auch hier spielt es eigentlich keine Rolle, ob ein Kind das etwas früher oder später kann. Aber unser System versucht, alle einander anzugleichen.
Sie plädieren auch für mehr Mitbestimmung. Was verstehen sie darunter?
Kinder sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen. Am besten lernen sie das, indem sie selbst über gewisse Dinge bestimmen oder mitbestimmen können. Sie tragen Verantwortung für ihre Entscheidung und sind aktiv. Ein Umfeld, das Kindern alles vorgibt und über sie bestimmt, macht sie hingegen passiv und drückt aufs Selbstvertrauen.
Warum?
Wer nichts ausprobieren oder entscheiden kann, kann wichtige Erfahrungen nicht machen. Allen voran jene des Scheiterns und des Erfolgs. Aktuell nehme ich vor allem bei Jugendlichen eine starke Krise beim Selbstvertrauen wahr.
Wie zeigt sich diese Krise?
Viele Jugendliche trauen sich wenig zu. Sie sind bei einfachen Aufgaben, wie jemanden anrufen, eine E-Mail schreiben oder eine Idee vorstellen, überfordert. Sie trauen ihren Fähigkeiten nicht und brauchen viel Bestätigung und Unterstützung, um solche Aufgaben zu erledigen.
Woher kommt das?
Eltern nehmen Kindern viel ab. In erster Linie, weil sie sie vor gewissen schlechten Erfahrungen bewahren wollen. Das ist verständlich, aber das Wichtige an Erfahrungen ist, dass man sie selbst macht. Sonst ist es keine Erfahrung. Dasselbe gilt für die Schule: Vieles ist heute im Schulbetrieb geregelt und wird erledigt. Dabei wäre die Schule als geschützter Rahmen ein idealer Ort, um Dinge auszuprobieren, Selbstwirksamkeit zu erfahren, scheitern zu lernen und mit Fehlern umzugehen.
Wie sieht eine selbstbestimmte Schule aus?
Ich hätte gerne, dass die Schule ein Ort ist, an dem Schüler:innen altersabhängig Aufgaben und Verantwortung für den täglichen Betrieb übernehmen. Beispielsweise bestimmte Aufgaben wie die Reinigung, das Kochen oder den Unterhalt. Die Schule könnte in einzelnen Bereichen wie ein Modellbetrieb von Schüler:innen geführt werden. Auf der anderen Seite erhalten die Schüler:innen in gewissen Bereichen Möglichkeiten zur Mitbestimmung.
Wo zum Beispiel?
Das können kleine Dinge sein, wie die Gestaltung des Schulzimmers. Es könnte aber auch zentralere Bereiche betreffen, wie den Stundenplan. Schüler:innen könnten doch mal mitbestimmen, wann der Unterricht beginnt.
In Ihrem Buch betonen Sie, dass Diversität ein Vorteil für eine Schule ist. Weshalb?
Wir tendieren dazu, Diversität vor allem als Herausforderung zu sehen. Dabei sind unterschiedliche Bedürfnisse und Erfahrungen eine Bereicherung. Man kann voneinander lernen – auf unterschiedlichen Ebenen. Vom Umgang mit Sprachen über kulturelle Hintergründe bis zu individuellen Fähigkeiten. Wenn diese Dinge Platz haben, entsteht Raum fürs Lernen, für Diskussionen, vielleicht sogar für ein demokratisches Verständnis.
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir als Beispiel die Feiertage. In katholischen Kantonen hat man an Fronleichnam schulfrei. Fragt man Schüler:innen, was da gefeiert wird, wissen das die wenigsten, wirklich gefeiert wird der Tag von kaum jemandem. Gleichzeitig gibt es in anderen Religionen Feiertage, die von vielen gefeiert und begangen werden, an denen aber nicht schulfrei ist. Zum Beispiel das Fastenbrechen im Islam. Es könnte doch auch eine Möglichkeit sein, dass alle am Fastenbrechen freihaben.
Das ist ein sehr heisses Eisen.
Das ist mir klar. Es ist auch einfach mal ein Gedankenexperiment. Man könnte an einer Schule den Schüler:innen den Vorschlag machen: Ihr habt pro Jahr fünf Feiertage, macht zusammen aus, wie ihr diese einsetzt. In einem solchen Prozess würden sie viel lernen. Einerseits über unterschiedliche Religionen und Feiertage aus anderen Ländern, andererseits über demokratische Prozesse.
Ihre Forderungen würden das heutige System umkrempeln und wirken alle zeitintensiv. Sind sie realistisch?
Mir geht es nicht darum, die Schule von heute auf morgen komplett umzukrempeln. Ich finde es wichtig, dass wir die Schule auf eine Basis stellen, auf der Entwicklungen möglich sind. Dann können wir mit einzelnen Bausteinen beginnen. Die Ressourcen sind dabei ein zentrales Thema. Denn wir können sie nicht aufstocken. Die Lösung heisst darum aus meiner Sicht: weglassen. Das ist etwas, was Schulen heute nicht gut können. Aber durch das Weglassen kann man Ressourcen freispielen und umverteilen.
Was würden Sie konkret weglassen?
Das standardisierte Stoffvermitteln. Fällt das weg, entsteht viel mehr Raum für individuelles Arbeiten. Aktuell gibt es eine Entwicklung hin zu mehr selbstorientierten Projektarbeiten, also dass sich Schüler:innen selbstständig einem Thema widmen. Das geht in die richtige Richtung.
Die Schule ist abhängig von politischen Einflüssen. Ihre Haltungen stehen da im Gegenwind. In Zürich gibt es einen Vorstoss für die Wiedereinführung von Sonderklassen. Also für weniger Diversität und Inklusion.
Es gibt bei solchen Bewegungen oft ein Hin und Her. Ein paar Schritte vorwärts und wieder einer zurück. Manchmal entsteht der Eindruck, dass wir uns rückwärts bewegen. Auch bei mir. Blicke ich allerdings weiter zurück, sehe ich, dass sich vieles in eine positive Richtung entwickelt hat.
Wie sieht die Zukunft der Schule aus?
Ich denke schon, dass wir mehr Richtung Individualität und Mitbestimmung in den Klassenzimmern gehen werden. Nicht zuletzt, weil die technischen Entwicklungen immer mehr nach anderen Fähigkeiten verlangen.
Sie sprechen das Thema künstliche Intelligenz (KI) an?
Genau. Unsere Gesellschaft und die Wirtschaft brauchen langfristig innovative, kreative und soziale Menschen. Das wird früher oder später auch an den Schulen ankommen.
Wie beeinflusst KI heute den Unterricht?
KI ist vor allem an den Gymnasien ein grosses und herausforderndes Thema. Schüler:innen nutzen KI für Texte oder Vorträge, und diese liefert ziemlich pfannenfertige Lösungen. Als Lehrperson muss man sich überlegen: Welche Aufgabenstellungen ergeben Sinn? Welche Kompetenzen wollen wir bewerten und gewichten?
Bietet KI auch Chancen? Könnten Schüler:innen schon heute individualisiert lernen?
Noch nicht. Damit das funktioniert, bräuchte eine KI möglichst viele Daten von Lernenden. Idealerweise würde sie ein Kind von klein auf begleiten, damit sie ihm massgeschneiderte Aufgaben bieten kann, die interessant und herausfordernd sind. Das ist aufgrund des Datenschutzes heikel. Auf der anderen Seite müsste die KI an Lehrmittel und Lehrpläne angepasst werden. Ich kann mir vorstellen, dass KI in Zukunft zu einer Art Begleiterin beim Lernen wird, die Tipps gibt und unterstützt.
Die Schule steht auch vor menschlichen Herausforderungen: Es fehlt an Lehrpersonen. Was kann man da tun?
Motivierte Lehrpersonen zu finden, ist zentral. Damit das gelingt, braucht es Arbeitsbedingungen, die annehmbar sind. Zudem müssen Lehrpersonen Selbstwirksamkeit erleben. Man will spüren, dass man etwas bei den Schüler:innen auslösen kann. Viele Lehrpersonen werden heute zwischen den Ansprüchen aufgerieben. Sie müssen die Schüler:innen an ein Ziel bringen, die Eltern überzeugen und die Erwartungen der Schulleitungen erfüllen.
Zum Abschluss: Was ist eine gute Schule?
Eine gute Schule ist eine, die offen mit allen Beteiligten über die Prozesse spricht, die mit dem Lernen und der Entwicklung der Schüler:innen zu tun haben. Es ist eine, die keinen Schein wahren muss, die eine Fehlerkultur lebt, in der sowohl Schüler:innen als auch Lehrpersonen offen über Fehler sprechen und gemeinsam versuchen, Lösungen für Probleme zu finden. Und: Eine gute Schule denkt an Entwicklungsmöglichkeiten, nicht nur bei den einzelnen Menschen, sondern auch als Organisation.
Philippe Wampfler, 46, ist Deutschlehrer an der Kantonsschule Uetikon am See, Dozent am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich und Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Bildung. Wampfler hat Germanistik, Mathematik und Philosophie an der Universität Zürich studiert. Er ist Vater von drei Kindern und lebt in Zürich.