Die Welt ist unüberschaubar und kompliziert. Schön, gibt es Regeln, findet unser Kolumnist Mikael Krogerus. Sie bewahren davor, ein Idiot zu sein.
Jede Familie hat Regeln. Die Rede ist hier nicht von den Vorschriften, die Eltern aus Erziehungsratgebern haben und auch nicht von den allgemeingültigen, oft christlichen Vorgaben («Du sollst nicht stehlen»). Nein, die Rede ist mehr von den ungeschriebenen Gesetzen, die unbewusst den oft diffusen Wertekanon der Eltern abbilden. Als Kind hielt man sich an die Gesetze, wenn man Rückenwind brauchte, und verstiess gegen sie, wenn man Reibung suchte. Manche dieser Regeln sind klug, andere idiotisch. Aber egal, wie wahnsinnig sie auch sein mögen, sie bilden die Leitplanken deines Lebens. Du wirst sie vergessen, wenn du ausziehst, und dich wieder an sie erinnern, wenn du selber Kinder hast. Die Gebote meiner Kindheit lauteten:
1. Schau dem Gegenüber in die Augen, wenn du dich entschuldigst. Ein Gebot, gegen das man wirklich nichts einwenden kann.
2. Zieh dir die Schuhe aus, bevor du eine Wohnung betrittst. Eine sehr skandinavische Regel; eine Wohnung mit Schuhen zu betreten, ist in Skandinavien ein Affront, vergleichbar mit der Idee, in Indien Kalbsplätzli zu bestellen oder Schweizer nach ihrem Lohn zu fragen.
3. Mache jeden Morgen dein Bett. Für diese etwas zwinglianisch anmutende Vorgabe argumentierte meine Grossmutter folgendermassen: «Es wird Tage geben, an denen aus hell dunkel und aus leicht schwer wird. Wenn du dann nach Hause kommst und dich einsam und wertlos fühlst, dann kannst du dich wenigstens auf ein gemachtes Bett fallen lassen. Auf ein Bett, das du gemacht hast! Dein Bett machen wird dich daran erinnern, dass im Leben auch die kleinen Dinge zählen.» Ich habe bis heute Mühe, mich an diese Regel zu halten, und doch ist Bettenmachen zusammen mit Wäschesortieren eine der wenigen mir bekannten wirksamen Therapien gegen milde Depressionen.
Im Laufe der Zeit sind drei neue Gebote hinzugekommen, an denen ich mich orientiere, und die für mich eine Art Rüstzeug sind, um mit dem Wahnsinn des Lebens klarzukommen:
1. Grosszügig schlägt kleinherzig. Jeder freut sich, wenn er gut behandelt wird. Wenn jemand etwas Gutes macht, sollte man sich mit ihm freuen, nicht versuchen, einen Fehler zu finden.
2. Du sollst nicht langweilen. Fast jede Erfahrung, wie schlimm sie auch sein mag, wird eines Tages Stoff für eine gute Geschichte, über die du und andere lachen, wenn du sie gut erzählst. Das Zwerchfell wärmt besser als jeder Nerz.
3. Neues willkommen heissen. Sonst geht es woanders hin. Im Leben geht es, glaube ich, darum, jemand anderes zu werden, als der, der man ist. Umgekehrt heisst das: Fürchte dich nicht vor Fremdem, vor Veränderung, vor Andersartigkeit – begrüsse sie.
Ich bin mir nicht restlos sicher, aber ich habe das Gefühl, dass man mit diesen sechs Regeln einigermassen durchs Leben kommt. Du wirst vielleicht nicht Partner in einer Kanzlei oder Chefarzt einer Privatklinik, aber auch kein Unsympath. Und das ist schon viel. Denn was nützt einem Geld und Ruhm und Gesundheit, wenn man sonst ein Idiot ist?
Mikael Krogerus
Mikael Krogerus (38) stammt aus Finnland und lebt in Biel mit zwei Kindern (8 und 13) und einer Frau (36). Er ist Kolumnist der NZZ und schreibt Bücher. Zuletzt von ihm erschienen:«Das Kinderfragebuch» (Kein&Aber).