Babykosmos
Mehr Selbstbestimmung beim Gebären
Von Ann-Kathrin Schäfer
Liegt das Baby falsch, ist es zu schwer oder die Mutter zu alt, werden Ängste geschürt und Interventionen angeordnet. Doch nicht immer sind diese nötig. Ein Plädoyer für mehr Selbstbestimmung beim Gebären.
Beckenendlage, Zwillinge, hohes Geburtsgewicht ? Wo bei anderen sofort die Alarm- respektive Kaiserschnitt-Glocken läuten, bleibt Werner Stadlmayr ruhig. Der Gynäkologe und Geburtshelfer hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Wunsch nach einer natürlichen Geburt bei allen Schwangeren ernst zu nehmen. Böse Zungen betitelten ihn deshalb schon als Romantiker, Fundamentalisten und gar als verantwortungslos. «Die Emotionen kochen erstaunlich hoch, wenn es um das einfache Bedürfnis von Schwangeren geht, vaginal zu gebären», sagt Stadlmayr, der in Aarau eine Praxis führt. «Viele Frauen müssen sich gegen enorme Widerstände behaupten.»
Mit dem Kopf nach oben
Eine dieser Frauen ist Patrizia Huber *. Beide ihre Kinder lagen in ihrem Bauch « falsch herum», oder besser ausgedrückt, einfach anders herum als der Grossteil der Babys. Die medizinische Empfehlung, die Babys von aussen wenden zu lassen, schlug sie aus. «Das war für mich eine schlimme Vorstellung. Meine Kinder fühlten sich halt mit dem Kopf nach oben am wohlsten.» Als sie trotzdem mit dem Gedanken einer vaginalen Geburt spielte, hatten plötzlich alle eine Meinung. «Das kannst du doch nicht machen ! », kriegte sie zu hören. «Das Risiko ist viel zu hoch ! » Beim Googlen stiess Huber auf Schilderungen von Beckenendlagen-Geburten, die schiefgelaufen waren. Die Meinungen und Bilder, die auf sie einprasselten, verunsicherten die Schwangere. Sie beschloss, sich nur noch bei ihrem Gynäkologen über Vorund Nachteile der Geburtsformen zu informieren. Hörte in sich hinein. Fasste Mut, weil sie ihren Mann neben sich wusste. Und beschloss, die natürliche Geburt im Krankenhaus zu versuchen.
Damit gehört Huber zu einer Minderheit in der Schweiz: 94 Prozent der Schwangerschaften, in der das Kind mit dem Kopf nach oben liegt, enden mit einem Kaiserschnitt. Wenn etwas von der Norm abweicht, raten viele Geburtskliniken und Ärzt:innen schnell zur geplanten Sectio – auch bei hoch geschätztem Geburtsgewicht oder Mehrlingen. Dabei wünschen sich gemäss der Hebammenforscherin Jessica Pehlke -Milde nur zwei bis fünf Prozent aller Schwangeren einen Kaiserschnitt. Die grosse Mehrheit möchte möglichst interventionsarm gebären. Auch die WHO warnt, dass der Kaiserschnitt Risiken für Mutter und Kind berge. Die Operation sollte nichts anderes sein als eine wichtige Massnahme, um Leben zu retten.
Jede Geburt verläuft anders
In der Geburtshilfe kursieren viele Richtlinien. Wer beispielsweise einmal einen Kaiserschnitt erlebt hat, gilt bei einer weiteren Schwangerschaft automatisch als «Risikoschwangere». Auch das Alter der Schwangeren spielt eine Rolle: Ist sie über 40, wird ihr neben detaillierten pränatalen Untersuchungen gerne auch eine Einleitung am errechneten Entbindungstermin nahegelegt. Selbst wenn es dem Kind im Bauch gut geht. Und auch Gebärende ohne «Risiko» erhalten bei Wehenbeginn in vielen Krankenhäusern einen Venenkanal und einen CTG-Bauchgurt – ob sie das wünschen oder nicht.
Wie sinnvoll solche Normen sind, darüber gibt die Studienlage weit weniger klare Antworten als viele Geburtshelfer:innen. Selbst ein erhöhtes Risiko stellt in den allermeisten Fällen ein höchst seltenes Risiko dar. «Niemand sagt, dass über 995 von 1000 untersuchten Geburten problemlos verlaufen», sagt Frauenarzt Stadlmayr. «Würde man werdenden Eltern die Auswertungen transparent darlegen, könnten sie besser mitentscheiden.» Die Kategorisierung «Risiko» schüre hingegen von Anfang an Angst. Er betont: «All diese Richtlinien hat die Ärzteschaft selbst geschaffen, um sich abzusichern.» Die Sorge: verklagt zu werden, sollte doch etwas schief gehen. Denn im Fall einer Klage müssen Geburtshelfer : innen belegen, keinen Fehler gemacht zu haben. Da scheint es einfacher, sich an Richtlinien zu halten. Ein weiteres Problem: Der geplante Kaiserschnitt ist im Vergleich zur unplanbaren vaginalen Geburt für Kliniken einfacher zu organisieren. Stadlmayr kritisiert, dass die Politik keine Dringlichkeit sieht, sich dem Thema anzunehmen. «Die Frauen, die eine natürliche Geburt wünschen, haben keine Lobby.»
Zeit für Entscheidungen
Der Gynäkologe, der sich in Psychotherapie weitergebildet hat, spricht von «komplexer Situation» statt von «Risikoschwangerschaft». Er findet: «In der Geburtshilfe geht es viel zu mathematisch zu.» Deshalb macht er einiges anders als viele Kolleg:innen: Er gibt das geschätzte Geburtsgewicht transparent mit 500 Gramm Schwankungsmöglichkeit an. Er betont, dass eine Geburt auch zwei Wochen vor und nach dem errechneten Termin termingerecht ist. Ihm ist wichtig, in der Schwangerschaft aufkommende Ängste ernst zu nehmen und psychologisch zu begleiten.
Er informiert ruhig und sachlich über verschiedene Möglichkeiten, lässt Zeit für Entscheidungen. Während der Geburt hat er nicht nur Augen für den Bildschirm, sondern versucht zu spüren: Wer ist diese Frau, und was brauchen sie und ihr Kind?
«Jede Geburt verläuft anders und passt darum in kein Schema», sagt Stadlmayr. Auch die Vorgabe, in welchem Zeitabstand sich der Muttermund um wie viele Zentimeter zu öffnen habe, sei «künstlich» und zu hinterfragen. «Manchmal dauert es halt länger ! Das kann man nicht normieren.» Wenn Interventionen – ob Wehenmittel, Saugglocke oder Kaiserschnitt – trotzdem notwendig erscheinen, mache es für Gebärende einen grossen Unterschied, ob sie die Entscheidungen mittragen und sich in ihrer Würde geachtet fühlen. «Am Ende zählt nicht nur, dass Mutter und Kind leben.» Wie eine Geburt erlebt wird, habe einen grossen Einfluss auf die Entwicklung von Mutter und Kind nach der Geburt.
Patrizia Huber
Keine Angst vor schweren Babys
Auch Veronica Ammann, Vorstandsmitglied des Hebammenverbandes Aargau-Solothurn, findet die Normen in der Geburtshilfe problematisch. Bei einem Tee in ihrer Hebammenpraxis erzählt sie von Schwangeren, die durch Messwerte verunsichert werden. Ein Beispiel: zierliche Frau, schwer geschätztes Baby, eindringlich empfohlener Kaiserschnitt – «und am Ende kommt ein Baby mit Durchschnittsgewicht auf die Welt». Dabei ist Ammann überzeugt, dass die Angst vor einem grossen Kind ungerechtfertigt ist. «Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass schwere Babys den Muttermund gut aufdrücken und sich als kleines Päckchen in die richtige Position schieben, weil nicht so viel Platz da ist», erklärt sie.
Auch Geburtsverletzungen kommen nicht häufiger vor. Und selbst die befürchtete hängen gebliebene Schulter, die gemäss Studien oft unabhängig vom Gewicht und insgesamt nur höchst selten auftritt, könnten geschulte Geburtshelfer : innen meist mit einem geübten Handgriff lösen. Eine Studie des Kantonsspitals Aarau macht beispielhaft deutlich, welchen Einfluss die Sorge über vermeintliche Risikofaktoren haben kann. Wussten die Frauen, dass das Geburtsgewicht ihres Kindes hoch geschätzt ist, lag die Kaiserschnittrate nach spontanem Geburtsstart am Ende bei über 50 Prozent – wussten sie es nicht, bei nur 11 Prozent.
Getrübte Vorfreude
Ein weiteres Beispiel: Eine Frauenärztin vermisst sich bei der Nackenfalte. Das Risiko sei erhöht, dass das Ungeborene Trisomie 21 habe. Obwohl das falsche Messergebnis schnell aufgeklärt ist, bleibt die Schwangere bis zur Geburt ihres gesunden Kindes unruhig.
«Solche Verunsicherungen trüben die Vorfreude der Eltern unnötig», sagt Veronica Ammann. «Bereits Schwangere spüren meist am besten, wie es ihrem Kind geht. Sie sind schliesslich mit der Nabelschnur verbunden.» Das gelte auch im umgekehrten Fall, wenn man ein ungutes Gefühl habe: Unauffällige Messwerte bedeuten nicht immer, dass es dem Kind gut geht. Ammann bestärkt Eltern darin, auf das eigene Gefühl zu hören und vom medizinischen Personal eine Kommunikation auf Augenhöhe einzufordern, auch über die Geburt hinaus.
Denn im Wochenbett geht das Rechnen weiter: Wie viel nimmt das Kind pro Woche zu? Weicht hier etwas im Grammbereich von der Norm ab, beordern manche Kinderärzt:innen die Eltern in die Praxis und raten schnell zum Zuschöppeln. Auch wenn Wochenbetthebamme und Eltern das Kind als gesund und zufrieden erleben. Interessant dabei: Die Zahl wird immer mal wieder angepasst. Mal heisst es 120 Gramm, mal mindestens 170 Gramm Gewichtszunahme pro Woche seien «normal».
Vorbild Niederlande
Die WHO, aber auch Hebammenverbände und einzelne Ärzte fordern: Statt auf Zahlen und Richtlinien sollten Geburtshelfer : innen individuell auf die Bedürfnisse von Mutter und Kind eingehen. Hebamme Ammann begleitet ihre Frauen als Beleghebamme 1:1 durch Schwangerschaft und Geburt, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Sie wünscht sich, dass Schwangerschaften von Anfang an standardmässig von Hebammen betreut werden – und diese erst an Gynäkologen verweisen, wenn Komplikationen auftreten.
In den Niederlanden wird das so gehandhabt. Dort kommen mehr Kinder zu Hause (20 Prozent) als per Kaiserschnitt (17 Prozent) zu Welt. «Ärzt:innen sind dafür ausgebildet, Probleme zu finden und zu lösen», sagt Ammann. «Anders als Hebammen, die zuerst von einer gesunden Schwangerschaft ausgehen.»
Patrizia Huber ist heute froh, dass sie sich nicht für den üblichen geplanten Kaiserschnitt entschieden hat. Beide ihre Kinder kamen «wie ein Klappmesser mit dem Füdli zuerst» zur Welt, beide gesund. «Meine zwei Nicht-Norm-Geburten fühlten sich sehr normal an», sagt die 35-Jährige – und erzählt von begeisterten Hebammen, die sich freuten, eine Geburt in Beckenendlage mitzuerleben. Nur wenn solche Geburten stattfinden, kann das Personal auch die nötige Erfahrung sammeln. Die Freude und die Ruhe ihrer Geburtshelfer : innen halfen Huber durch die Wehen. Sie fühlte sich ernst genommen. «Alle haben auf mich gehört ! Das machte mich stark.» Ihre Tochter ist heute fünf, ihr Sohn drei Jahre alt. Weit über ihre Geburten hinaus verhelfen der zweifachen Mutter die Geburtserlebnisse zu einem gestärkten Selbstbewusstsein. «Ich weiss jetzt, dass ich meinem Körper vertrauen kann», sagt sie und lacht gelöst. «Der kann was ! »