Plötzlich lügen die Kleinen die ganze Zeit. Weshalb? Weil sie es von uns gelernt haben.
Ungefähr mit vier Jahren beginnen Kinder zu lügen. Erst dann nämlich können Kinder sich in einen anderen Menschen hineinversetzen. Und das ist eine Voraussetzung für das Lügen. Wenn Kinder erst einmal entdeckt haben, dass andere weniger wissen können als sie selbst, fangen sie an, mit diesem «Vorsprung» lustvoll zu spielen.
Dass der Teddy gesagt hat, er möchte jetzt sofort ein Eis essen, finden Eltern noch niedlich. Aber wenn das Kind behauptet, die Überschwemmung im Bad habe jemand anderes verursacht, hört für sie das Spiel auf. Für das Kind hingegen ist das nur eine neue Variante seiner Erfindungsgabe.
Die Anfangsfehler der Eltern
«Leider machen Erwachsene in der Anfangszeit kindlichen Lügens manches falsch», sagt Gertrud Ennulat, Autorin des Buches «Wenn Kinder lügen». «Sie leiden unter dem Verlust ihres süssen Kindes und wehren sich gegen seine Veränderung so lange, bis sie begriffen haben, dass der Weg zur Wahrhaftigkeit mit Lügen gepflastert ist.»
Die Pädagogin rät Erwachsenen, sich an ihre eigene Kindheit zu erinnern, an Situationen, in denen die eigenen Eltern einen mit einem inquisitorischen «Schau mich an!» zur Beichte zwingen wollten. «Jeder Erwachsene kennt diese beschämenden Situationen aus eigener Erfahrung, hat darunter gelitten und mutet sie dennoch seinem Kind zu.»
Nichts als Lügen
Ein Kind, das lügt, zwingt uns immer zum Blick in den eigenen Spiegel. Was ist, wenn wir den Kleinen erzählen, das Christkind bringe die Geschenke? Keine Lügen? Und wenn wir uns bei Tante Rosmarie erst wortreich für ihre leckere Konfitüre bedanken, die wir dann umgehend entsorgen? Lügen, nichts als Lügen. Bei den Kindern sind wir geschockt, wenn sie genau das von uns lernen.
Die Pädagoginnen Renate Valtin und Sabine Walper haben 6- bis 17-Jährige über ihre Beweggründe zum Lügen befragt. Jüngere Kinder finden es gerechtfertigt, wenn man lügt, um sich vor einer drohenden Strafe zu schützen.
Im Jugendalter dreht sich der Spiess um. Nun sind es nicht mehr die schweren Vergehen, die durch Lügen vertuscht werden sollen, sondern nur noch geringfügige Normübertretungen. Das ist doch tröstlich: Wenn Eltern nicht wegschauen, sondern immer wieder (auch die eigenen) Wahrheitsverdrehungen zurechtrücken, werden aus den kleinen Lügenbolden wahrscheinlich ziemlich ehrliche Erwachsene.
Buchtipp
Gertrud Ennulat: «Wenn Kinder lügen», Klett-Cotta Verlag, Fr. 23.60