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Brief an mein ungeborenes Kind

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Mein klitzekleines Gummibärchen,
da schwimmst du also im Bauch deiner wunderschönen Mama herum und weisst gar nicht, was hier draussen so vor sich geht. Ich will es dir erzählen, mein viertes, mein letztes Kind. Deine Geschwister lassen dich schön grüssen. Die beiden ganz Grossen knobeln gerade miteinander aus, welchen Namen du bekommen sollst. Es ist zwar noch nichts entschieden, aber ich verspreche dir, dass er wunderbar klingen wird: Dein eigener Name. Und wenn wir deinem kleinen grossen Bruder erzählen, dass wir dich in einigen Monaten in unserer Mitte haben werden, dann gluckst er vergnügt vor sich hin und winkt dir. Ich glaube, er kann dich sehen. Ich glaube er ahnt schon, wie kunterbunt und wuselig du sein Leben machen wirst. Wir freuen uns auf jeden Fall die Ohren rot, dass du bald da bist.
Aber es gibt noch andere Dinge, von denen ich dir erzählen muss. Vor denen ich dich beschützen werde, solange es nötig und solange Atem in mir ist. Hier draussen gibt es Menschen, die dir sagen wollen, wer du bist und was du zu tun hast, ohne dass sie dich kennen oder verstehen. Falls du ein Mädchen wirst, werden sie dir erzählen, dass Mädchen lieb zu sein haben, hilfreich und gut. Dass sie immer mitfühlen und sich zurücknehmen müssen. Dass sie aufpassen sollen, wie sie auf andere wirken, damit sie nicht dafür verantwortlich sind, wenn ihnen übel mitgespielt wird.
Falls du ein Junge wirst, werden sie dir erzählen, dass Jungen stark zu sein haben, tapfer und kalt. Dass sie immer kämpfen und sich durchsetzen müssen. Dass sie aufpassen sollen, nie schwach zu wirken, damit sie nicht dafür verantwortlich sind, wie ein Schwächling behandelt zu werden.
Deinen Geschwistern haben sie all das erzählt.
Als deine Schwester schneller rechnete als alle anderen in ihrem Alter, sagten sie ihr, so etwas tut ein Mädchen nicht. Worte wie Eisenketten schlangen sie um ihren Kopf.
Und als dein Bruder in Röcken und Kleidern hübscher aussah als jedes andere Kind im Ort, sagten sie ihm, so etwas tut ein Junge nicht. Blicke wie Pfeile schossen sie in seine Haut.
Aber trotzdem musst du dir keine Sorgen machen. Während du noch ein paar Runden schwimmst, schmiedet deine Familie Pläne gegen Pfeilspitzen und Ketten. Wir werden sie abfangen und zerbrechen. Wir werden dir zeigen, wie man sie entfernt und zersprengt. Und wir werden die zur Verantwortung ziehen, die dich fesseln und verletzen wollen.
Es wird anstrengend sein und manchmal über unsere Kräfte gehen, aber das ist es wert. Du bist es wert.
Wir sehen uns im Sommer!
Papa
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.