
Anete Melece
Erziehung
Mut ist eine Superkraft
«Ich trau mich nicht!» – diesen Satz hören Eltern oft. Aber wie lernen Kinder, sich trotzdem etwas zuzutrauen? Was sie stark macht und warum auch Angst dazugehört.
Ich trau mich nicht», flüstert die Achtjährige, während sie nervös vom Dreimeterbrett aufs Wasser starrt. «Ich mag nicht ohne dich zum Bäcker gehen», sagt der Sechsjährige und weigert sich, den Laden alleine zu betreten.
Mutig sein, Herausforderungen angehen – dies alles ist wichtig. «Nur wenn ich mir immer wieder etwas zutraue, erweitere ich meinen Horizont und kann neue Aufgaben annehmen – was uns wiederum mit Stolz und Selbstvertrauen erfüllt», findet Ina Blanc. Sie ist Kinder- und Jugendpsychologin mit eigener Praxis in Basel. Mut haben bedeutet also, sich trotz eigener Unsicherheit einer schwierigen Situation zu stellen, die eigene Komfortzone zu verlassen, etwas Neues zu wagen. Gleichzeitig ist der Begriff «Mut» etwas sehr Individuelles: So erfordert für manche ein Bungeesprung aus extremer Höhe viel Mut. Andere kommen bereits bei der Vorstellung, eine fremde Person ansprechen zu müssen, ins Schwitzen.
Tatsächlich hat Mut viele Dimensionen: Es gibt emotionalen Mut – den es etwa braucht, um zu seinen eigenen Gefühlen zu stehen. Psychologischen Mut – der sich in Durchhaltevermögen äussert. Oder sozialen Mut – der zum Ausdruck kommt, wenn ich Zivilcourage zeige und für andere eintrete.
Mut lässt sich trainieren
«Es gibt keinen Mut ohne Angst», gibt die Psychologin zu bedenken. Oder anders gesagt: «Wir sind nur mutig, weil wir uns etwas getrauen, was uns Angst macht. Gleichzeitig bedeutet mutig sein auch zu vertrauen, dass man es schafft. Somit liegen Mut und Selbstwirksamkeit ganz nah beisammen.» Vor allem aber – und das ist zentral – ist Mut nicht nur ein Charakterzug, sondern auch eine Eigenschaft, die sich trainieren lässt.
Doch was hilft Kindern, ihre Ängste zu überwinden und somit innere Stärke zu entwickeln? Und wie können Eltern sie dabei unterstützen?
«Um Mut zu entwickeln, brauchen Kinder zuallererst ein sicheres Fundament», findet Ina Blanc. Und verweist auf den britischen Psychoanalytiker John Bowlby, der die Bindungstheorie entwickelt hat. Eine sichere Bindung in der Kindheit, so die Theorie, führt zu einer gesunden emotionalen Entwicklung und zu stabilen Beziehungen im Erwachsenenalter. Sicher gebunden fühlen sichbeispielsweise Kinder, deren Eltern schnell auf die Bedürfnisse ihrer Säuglinge reagiert haben. «Diese Kinder getrauen sich eher, auf Neues zuzugehen, sie sind mutiger», so Blanc.
Mut bei Kindern entwickelt sich also in einem Prozess der inneren Stärkung und des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Und dies beginnt bereits früh – etwa, wenn der Nachwuchs anfängt, sich selbst fortzubewegen. Werden Kinder positiv bestärkt, die erste Stufe einer Treppe zu schaffen, trauen sie sich nach und nach bis nach ganz oben. Dies macht den Nachwuchs nicht nur stolz, sondern stärkt auch seine motorischen Fähigkeiten und erweitert seinen Erfahrungsraum.
Mutig zu sein üben Kinder auch, wenn Eltern sie Dinge alleine machen lassen. «Schon Vier- oder Fünfjährige können bereits etwas zum Familienleben beitragen, wenn man ihnen Ämtli aufträgt wie Tisch decken, Zimmer aufräumen oder Wäsche zusammenlegen», findet Ina Blanc. Wichtig sei dabei, den Kindern nicht jeden Handgriff vorzuschreiben. «Dann ist die Wäsche vielleicht nicht so zusammengefaltet, wie Mama oder Papa es tun würden, aber das Kind erlebt sich als selbstwirksam – und damit sind wir ganz nahe am Mut.»
Kindern etwas zuzutrauen, sie ermutigen, gewisse Tätigkeiten alleine auszuführen, habe sich in Familien in den letzten Jahren allerdings verloren, beobachtet die Psychologin. Schliesslich setze dies Zeit voraus – die Mutter und Vater oft nicht haben. «Eltern sind heute eher gestresst und übernehmen deshalb viele Handgriffe selbst», erlebt Blanc. Das Zweijährige wird gefüttert, weil selber Essen zu lange dauern würde. Es wird in den Kinderwagen gepackt, weil man so schneller vorankommt. «Dabei wäre es äusserst wichtig, dass Kinder die Erfahrung machen: ‹Ich kann es alleine !› – und sich folglich selbst etwas zutrauen.»

Elisabeth Raffauf
Nein zu sagen ist auch mutig
Doch Mut in der kindlichen Entwicklung bedeutet nicht nur, etwas zu tun – sondern auch, etwas nicht zu tun. Tatsächlich erfordert es Mut und innere Stärke, für sich selbst einzustehen und die eigenen Grenzen klar zu formulieren. Sophie möchte beispielsweise den neuen Pulli vom Grosi nicht anziehen, weil er kratzt und dies kommuniziert sie deutlich. Finn traut sich zu sagen, dass er nicht bei seinem Freund übernachten mag. «Auch hier ist es wichtig, Kinder zu unterstützen und sie zu ermutigen, Nein sagen zu dürfen», findet Ina Blanc. Es gehe dabei um den Schutz der kindlichen Grenzen. So lernen Kinder eine gesunde Form von Mut. Schliesslich sollen sie im Laufe ihrer Entwicklung befähigt werden, auf ihre Instinkte zu hören. Damit Kinder mutig und selbstbewusst durchs Leben gehen, ist es also wichtig, dass Eltern sie ernst nehmen, ihnen die Möglichkeit geben, selbst etwas zu bewirken. Und ihnen nicht jede Herausforderung abnehmen. Was wiederum voraussetzt, dass Eltern immer wieder ihr eigenes Verhalten überprüfen. «Dafür muss ich mich als Elternteil allerdings selbst einigermassen gefestigt fühlen und wissen, wie ich mit eigenen Unsicherheiten und Ängsten umgehe», so Blanc.
Doch wie ermuntere ich mein Kind, mutig zu sein, wenn ich selbst eher ängstlich bin? Schliesslich lernen Kinder ja am Modell ihrer Eltern. «Auch dann kann ich als Vorbild für mein Kind agieren», findet die Psychologin, «und beispielsweise verbalisieren: ‹Ich habe Angst, über die Hängebrücke zu laufen, aber ich versuche es trotzdem.›» Auf diese Weise lernen Kinder, dass Angst und Mut untrennbar zusammenhängen. Und erfahren vor allem: «Ich muss nicht perfekt sein ! Mami und Papi sind es auch nicht.»
Herausfordernd kann es für ein Elternteil auch sein, wenn es eher risikofreudig und wagemutig ist, der eigene Nachwuchs sich aber nicht so viel traut. «Hier Verständnis für das Kind aufzubringen, ist manchmal nicht leicht», weiss Ina Blanc. Gleichzeitig sei es eine Chance, dem Kind zu zeigen: «Jeder Mensch ist anders, alle haben verschiedene Stärken und Schwächen – und das ist okay so.»
Eltern müssen nicht alles lösen
Mit den Ängsten von Kindern und Jugendlichen und wie daraus Mut werden kann, beschäftigt sich auch Elisabeth Raffauf in ihrem neuen Buch (siehe Kasten). Sie ist Psychologin und Expertin für Erziehungs- und Familienfragen mit eigener Praxis in Köln (D). Für das Buch hat sie viele Interviews mit Kindern und Jugendlichen geführt und festgestellt: Die Erwachsenensorgen sind im Kinderzimmer angekommen. Ob Klimakrise, Krieg oder finanzielle Sorgen: Bereits Primarschulkinder haben Angst vor der Zukunft. «Eltern möchten gern ihre Kinder vor schlechten Nachrichten schützen, sie sollen unbeschwert aufwachsen – das kann ich gut verstehen, aber es ist gar nicht möglich», so die Psychologin, die auch die Kindernachrichtensendung «logo» berät. «Kinder spüren unsere Sorgen. Selbst Kindergartenkinder fragen bereits: ‹Kommt der Krieg auch zu uns?›» Deshalb sei es umso wichtiger, dass Eltern in turbulenten Zeiten begleiten und Zuversicht vermitteln.
Doch wie funktioniert dies? Wie viel sollte man erklären, was besser weglassen? Und vor allem: Wie schaffen es Eltern, ihre eigenen Ängste nicht auf den Nachwuchs zu übertragen? «Zunächst ist es wichtig, dass Eltern Kindern ihre Angst zugestehen», findet Elisabeth Raffauf. «Mütter und Väter haben oft das Gefühl, Angst sei ein Problem, das sie lösen müssen. Vielleicht auch, weil sie Angst vor der Angst der Kinder haben.» Deshalb sollten sie sich klarmachen: «Wir sind nicht die Motivationstrainer unserer Kinder.» Es sei hilfreich, den Kindern den Raum zu geben, damit ihr Gefühl erstmal angeschaut werden darf. Generell, so die Psychologin, ist es wichtig zu signalisieren: «Wir können über alles reden!» Es gilt also, die Angst des Nachwuchses anzuerkennen, sie auf mehrere Schultern zu verteilen und nicht auszureden. Bei Themen wie Klimakrise oder Krieg helfe es manchmal, die Fragen von Sohn oder Tochter ganz konkret zu beantworten. «Gerade im Primarschulalter sind viele Kinder bereits mit ein, zwei Sätzen beruhigt und gehen wieder spielen», so Raffauf. «Das sollten Eltern respektieren und sich mit weiteren Erklärungen ruhig zurückhalten.»
Tun statt Grübeln
Aber ja, es ist ein herausforderndes Thema, findet die Psychologin. Gerade für Eltern, die durch die Konfrontation mit der Angst ihres Kindes fürchten, es womöglich nicht gut begleiten zu können. Dann helfe es, wenn sich Mütter und Väter mit ihrer eigenen Angst beschäftigen. Sich fragen: Wie gehe ich mit Klimakrise, mit Krieg um? Verdränge ich das Thema? Spreche ich mit Freunden darüber ?
Und auch hier ist die Angst eine gute Chance, um daraus Mut zu entwickeln. Habe ich mich mit anderen ausgetauscht und erfahren: «Meine Angst ist ein angemessenes Gefühl, anderen geht es auch so», reduziert das erstmal die Angst. Das ist bei Kindern so und auch bei uns selbst. «Anschliessend lässt sich schauen, was wir konkret tun können, um aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus zu kommen», so Elisabeth Raffauf. «Wir können den Krieg in der Ukraine nicht beenden – aber vielleicht Geflüchteten helfen. Beim Flohmarkt etwas abgeben. Etwas basteln und so signalisieren: ‹Wir stehen an eurer Seite.› All diese Dinge können wir auch mit Kindern überlegen. Sie erfahren dadurch: ‹Auch ich kann etwas tun.› Das macht Mut. Gross wie Klein erfahren so, dass sie selbstwirksam sind.»
Ina Blanc
«Ich bin ein Glückskind. Feel-Good-Tagebuch für Kinder».
Das Tagebuch begleitet Primarschulkinder durch die vier Jahreszeiten und stärkt sie, ihre Ressourcen zu entdecken und wachsen zu lassen. Inklusive Begleitbroschüre für Eltern und andere Bezugspersonen mit vielen Tipps für den Alltag.
172 Seiten, Fr.36.–, zu bestellen bei fideadesign.com
Elisabeth Raffauf
«Angst – Aufwachsen in unsicheren Zeiten und wie wir unseren Kindern helfen, mutig in die Welt zu gehen».
Elisabeth Raffauf nimmt darin die Ängste der Kinder und Jugendlichen ernst und ergründet Zusammenhänge mit der aktuellen Weltlage. Mit Hinweisen, wie man Ängsten trotz der vielen Auslöser etwas entgegensetzen und Kindern Vertrauen in die Welt vermitteln kann.
173 Seiten, Fr. 28.–, Patmos Verlag 2025