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Kinder zurückschlagen

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zvg
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Die Schweizer Debatte, um das Recht von Kindern auf körperliche Unversehrtheit und gewaltfreie Erziehung verfolge ich mit grossem Interesse. In Deutschland wurde Gewalt als zuvor probates Mittel der Erziehung 2000 gesetzlich geächtet, während sie in der Schweiz nach wie vor eine gesetzlich erlaubte Handlung darstellt – auch wenn sie in Bezug auf moralische Legitimation kontrovers diskutiert wird. Wir hatten diesbezüglich 2010 in Deutschland einen legendären Fall, der tatsächlich zu einigem Umdenken geführt hat. Ein Berliner Vater war vom Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er seiner vierjährigen Tochter zwei Ohrfeigen verpasst hatte. Eine, weil sie ihm auf dem Wochenmarkt davon gelaufen war und dann behauptet hatte, es sei die Schuld des Vaters. Die zweite, weil sie sich anschliessend nicht anschnallen lassen wollte. Der Fall hat deswegen für so viel Furore gesorgt, weil der Richter (wie auch viele Eltern) die Überforderung des Vaters komplett nachvollziehen konnte, ihn aber trotzdem verurteilte. Hilflosigkeit, Angst oder Fassungslosigkeit geben einem bei allem Verständnis eben trotzdem nicht das Recht, Gewalt auszuüben. Ich sehe das genauso. Und gerade deshalb halte ich es für unabdingbar, die Untiefen elterlicher Überforderung und Verzweiflung so komplett wie möglich auszuleuchten, damit auch entsprechende Hilfsangebote gemacht werden können und nicht nur juristische Strafen ausgesprochen werden müssen.
Was ist zum Beispiel, wenn die Kinder einen schlagen? Und damit meine ich nicht diese vielfach beschriebenen Fälle von «Wie gewöhne ich meinem Kleinkind Beissen und Schlagen ab». Ich meine damit, was Eltern tun können und sollen, wenn der Elfjährige sie im Streit ins Gesicht schlägt oder die Vierzehnjährige handgreiflich wird, weil sie weiss, dass die Alten sie nie zurückhauen würden. Mir scheint das ein sehr tabuiertes Thema zu sein. Und zwar wegen der implizierten Frage nach elterlichem Versagen und nach Schuld. Während bei Kleinkindern gemeinhin angenommen wird, dass an dieser Stelle einfach Erziehungsarbeit angebracht ist, gilt diese bei meinen Beispielen schon als gescheitert. Das Kind müsste es ja besser wissen. Schlägt man dann zurück? Hält man fest? Läuft man weg, schweigt, ruft um Hilfe? Wie wird man mit so einer Situation fertig? Es wäre an der Zeit, über Aggressionen als etwas zu sprechen, dass es nicht um jeden Preis zu vermeiden gilt, sondern als etwas, dass dazugehört und Umgangsstrategien benötigt.
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.