
Boris Müller
Reportage
Mein Kind, mein Content
Von Samantha Taylor
Familienleben zeigt sich heute auch auf Instagram, TikTok & Co – mal spontan, mal inszeniert. Drei Content-Creator:innen erzählen, wie sie damit umgehen – zwischen Sichtbarkeit, Selbstbestimmung und Schutz der Kinder.
Das schokoladenverschmierte Gesicht, der Einsatz beim Kerzenauspusten oder die Zufriedenheit beim Sandburgenbauen – solche Momente landen heute nicht nur im Familienalbum, sondern auch auf Instagram und TikTok. Sharenting nennt sich das Teilen von Fotos, Videos und anderen Informationen über Kinder online. Diese Inhalte sind nicht nur süss, der Content sorgt auch für viel Aufmerksamkeit und zahlreiche Likes. Für manche sind das Familienleben und die Kinderbilder dank Kooperationen und bezahlter Aufträge sogar zu einem lukrativen Business geworden. Influencer-Familien wie beispielsweise «The Ace Family» – 866 000 Follower:innen auf Instagram – wird nachgesagt, dass sie pro Jahr 1,4 Millionen US-Dollar mit ihrem Content verdienen.
Sharenting boomt, genauso wie Kinder- und Familieninfluencer:innen. Doch solche Einblicke sorgen längst nicht nur für Likes, sondern auch für Debatten: Wie viel vom eigenen Kind gehört ins Netz? Drei Content-Creator:innen erzählen, wie sie das für sich beantwortet haben.
Nora Kersten
Account: yoga_nora
Alter: 38
Wohnort: Kanton Zürich
Kinder: zwei Töchter, 4 und 6 Jahre alt, das dritte Kind ist unterwegs
Beruf: Yogalehrerin und Influencerin
Plattform: Instagram
Follower: 16'800

Wer durch Noras Account auf Instagram scrollt, findet heute kaum noch Posts mit Kindern oder aus ihrem Familienleben. Das war vor einigen Jahren noch anders. Warum Nora sich entschieden hat, fast alle Kinderposts zu löschen, erzählt sie im Gespräch. «Als meine erste Tochter vor sechs Jahren zur Welt kam, war für mich klar: Ich bin jetzt Mutter, das teile ich. Dieser Schritt war für mich logisch, weil ich schon davor viel Persönliches teilte und das gerne tat. Ich bin Ausbildungsleiterin für Yogalehrerinnen und diesem Thema widmete ich mich hauptsächlich auf Instagram. Ich erzählte aber immer auch, was mich gerade bewegt. Der Tod meiner Mutter, meine Beziehung oder mein Zugang zum Yoga. Als ich schwanger wurde, war es für mich keine Frage, ob ich das mit meinen Follower:innen teile oder nicht.
Ich war euphorisch, zeigte meinen Bauch und mein Kind. Meine Community freute sich mit mir und über meinen Content. Ich habe nie daran gedacht, dass meine Posts negative Folgen haben könnten. Kritische Stimmen aus dem Umfeld ignorierte ich. Aus unserem Familienleben teilte ich die Highlights, wie zum Beispiel: Juhu, das Baby ist da ! Oder den ersten Geburtstag, die ersten Familienferien. In den Storys gewährte ich Einblicke in unseren Alltag.
Der Kinder-Content war sehr erfolgreich und sorgte für viele Likes und Kommentare – das war toll. Gleichzeitig war ich überrascht, wie finanziell lukrativ es sein kann, sein Kind auf den sozialen Medien zu zeigen. Das war mir vorher gar nicht bewusst und eine völlig neue Erfahrung für mich. Schon während der Schwangerschaft erhielt ich erste Angebote von grossen Marken für Kollaborationen. Manches davon nahm ich an, anderes lehnte ich bewusst ab.
Mit der Zeit spürte ich mehr und mehr Druck. Zeigte ich mein Kind etwas länger nicht, dachte ich: Ich sollte mal wieder. Und dann gab es dieses eine stressige Shooting mit meiner Tochter. Mein Mann und ich merkten während des Shootings, dass unsere Tochter – sie war etwa zwei Jahre alt – keine Lust hatte, mitzumachen. Ich war gestresst, weil ich wusste: Wir werden für diesen Auftrag bezahlt. Das muss klappen. Auch die Fotografin war nervös. Sie bot der Kleinen Süssigkeiten an. Mein Mann wurde wütend. Er brach das Shooting ab und sagte zu mir: ‹Sie ist ein Kind. Wir haben vereinbart, solche Dinge nur durchzuführen, wenn sie Spass hat. Den hat sie nicht.› Nach diesem Erlebnis fragte ich mich: Was mache ich hier? Kinder sind nicht dazu da, für die Familie Geld mitzuverdienen. Es ging nicht mehr nur darum, wie viel ich von meinem Kind zeige, sondern darum, was all das für unser Familienleben bedeutet. Es war zu einem Stressfaktor geworden: das Kind in Pose bringen, ein süsses Bild machen, nur damit ich später etwas posten konnte.
Irgendwann schickte ein Freund meinem Mann und mir eine TV-Dokumentation. Es ging um Kinder im Internet. Ich wollte sie mir erst nicht ansehen, tat es aber trotzdem. Für meinen Mann stand fest : Wir müssen aufhören mit dem Kinder-Content. Ich wehrte mich. Nur wegen einer Doku mussten wir doch nicht unser Leben ändern. Nach ein paar Tagen spürte ich, dass dieser Film etwas mit mir gemacht hatte. Ich wusste, dass es für meine Kinder und für uns als Familie besser ist, keinen Familien-Content mehr zu produzieren. Diese Entscheidung war mit Angst verbunden. Würde ich viele Follower verlieren? Ich sortierte mich und sagte mir: Nora, du bist Yogaexpertin und nicht Momfluencerin. Ich löschte praktisch alle Posts mit meiner Tochter. Das war vor über vier Jahren.
Ich verurteile Eltern nicht, die sich anders entscheiden. Aus meiner Sicht gibt es kein Richtig oder Falsch. Für mich hat es nicht mehr gepasst. Meine Kinder kommen auf meinem Kanal nur noch selten vor. Und wenn, sieht man sie von hinten oder ihr Gesicht ist verdeckt. Ich fokussiere auf mein Business und meine Stärke, das Yoga. Trotzdem teile ich noch immer gerne Persönliches. Zum Beispiel habe ich vor Kurzem meine dritte Schwangerschaft verkündet. Wie viel ich davon preisgebe, weiss ich noch nicht.»
Zirka 1'300 Fotos von sich findet ein heute zwölfjähriges Kind in den sozialen Medien. Auf diese Zahl kommt das Kinderhilfswerk UNICEF. Gepostet werden die Bilder oft von den Eltern. Laut einer Studie von Kinderschutz Schweiz und der Universität Fribourg teilt jeder zehnte Elternteil regelmässig Bilder seiner Kinder online. Weniger als die Hälfte (45%) holt die Erlaubnis der Kinder ein. Der Grossteil der Eltern postet zwar mit besten Absichten, trotzdem gibt es Gefahren für Kinder. Die Hauptprobleme sind gemäss der Datenschutzexpertin Sandra Husi-Stämpfli Mobbing und pädokriminelle Handlungen: «Schon harmlose Fotos vom Strand oder Spielplatz können leider im Netz sexualisiert werden. Vermeintlich lustige Fotos von einem Missgeschick können später zu Mobbing führen.» Eltern seien darum in der Pflicht, ihre Kinder und deren Privatsphäre zu schützen.
Luu

Account: Quatschuniversum
Alter: 44
Wohnort: Kanton Basel-Landschaft
Kinder: zwei Töchter, 9 und 5 Jahre alt
Beruf: IT-Informatiker
Plattform: TikTok
Follower und Views: 1'895 und je nach Video bis zu 150'000 Views
Ausflüge für die ganze Familie, Spartipps und der Alltag als getrennt erziehender Vater: Darüber berichtet Luu auf seinem Kanal Quatschuniversum. Er erzählt, wie seine Kinder die Videos finden und was sie davon halten, dass ihr Vater ihr Gesicht abdeckt.
«Ich bin neu in diesem Game. Meinen Kanal gibt es seit einem Jahr. Auslöser war meine Trennung. Meine Kinder sind zu 45 Prozent bei mir. Ich habe viel zu tun, wenn sie bei mir sind, und viel freie Zeit, wenn sie nicht da sind. Um Letztere zu füllen, suchte ich ein Hobby. Ich unternahm schon immer gerne Ausflüge. In meinem Freundeskreis bin ich bekannt dafür, Tipps weiterzugeben. Zudem habe ich ein Händchen für Rabatte. Bis vor Kurzem gab ich meine Ausflugs- und Spartipps in WhatsApp-Gruppen weiter. Mit dem Überschuss an Zeit dachte ich, ich könnte sie mal einem grösseren Publikum präsentieren. So begann ich, Spar- und Ausflugstipps auf TikTok zu teilen. Irgendwann liess ich auch meinen Alltag als getrennt erziehender Vater in meinen Content einfliessen. Dies vor allem, weil ich merkte, dass es viel Content über Väter und nur wenig von Vätern gibt.
Erst war es ein seltsames Gefühl, mich und meine Töchter in die Öffentlichkeit zu stellen. Dabei sind wir gar nicht so öffentlich. Mir geht es nicht um mich, sondern mehr um die Sache – die Ausflüge, die Spartipps, den Alltag als Vater. Ich halte mein Gesicht nicht dauernd in die Kamera. Meine Kinder kommen zwar oft vor, man erkennt sie aber nicht. Ich verdecke ihre Gesichter mit einem Dachs und einem Hasen. Auch unsere Namen nenne ich nicht. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens: Mobbing. Meine ältere Tochter ist neun Jahre alt und in der Schule. Ihre Klassenkamerad:innen nutzen zwar TikTok noch nicht, aber das wird sich ändern. Kinder können grausam sein, und ich möchte meine Tochter diesem Risiko nicht aussetzen. Natürlich können auch Sprüche kommen, wenn sie als Dachs in den Videos vorkommt. Aber immerhin ist sie nicht so exponiert. Der zweite Punkt ist der Shitstorm. Kinder in den sozialen Medien zu zeigen, ist ein absolutes Reizthema – vor allem im deutschsprachigen Raum. Bei englischsprachigem Content sehe ich kaum ein Kind unkenntlich gemacht. Ich hatte keine Lust auf diese Diskussionen oder negative Kommentare. Ich will positiven Content machen und eine positive Stimmung auf meinem Kanal. Und schliesslich ist da noch das Thema mit der Pädophilie und dem Missbrauch der Bilder. Mir ist bewusst, dass Kinderbilder Menschen mit schlechten Absichten anziehen können.
Unsere Ausflüge und unser Alltag sollen ungestört verlaufen. Ich filme nebenbei und stelle keine Szenen. Ich will nicht, dass meine Kinder posieren oder schauspielern. Meine ältere Tochter weiss, dass es TikTok gibt. Sie schaut gewisse Filme, die ich mache, und findet die Videos ‹mega cool›. Was sie nicht versteht, ist, weshalb ich sie abdecke. Sie fragt auch, wann der Dachs wegkommt. Natürlich ist sie zu jung, um das zu entscheiden.
Meine Kinder und ihr Wille sind für mich zentral. Wollen sie nicht mehr in den Videos vorkommen oder bekommen sie deswegen Probleme, höre ich sofort auf. Ich würde auch den bisherigen Content löschen. Ich weiss, das Internet vergisst nie, man kann aber immerhin die Hauptquelle entfernen. Das ganze Quatschuniversum ist für mich ein Hobby. Ich habe null Druck, dort abzuliefern, und ich verdiene damit bisher keinen Franken. Ich entscheide, wie viel und welchen Content ich mache. Diese Freiheit schätze ich.»
Die Diskussionen rund um den Schutz von Kindern haben mancherorts zu neuen Gesetzen geführt. In einigen Bundesstaaten der USA gelten Gesetze, die Eltern dazu verpflichten, die Einnahmen, welche sie mit dem Content ihrer Kinder generieren, auf Treuhandkonten für ihre Kinder einzuzahlen. In Frankreich hat die Regierung 2020 ein Gesetz zum Schutz von Kinderinfluencer:innen verabschiedet. Es verpflichtet Plattformen und Eltern dazu, die Einnahmen der Kinder auf einem Konto zu hinterlegen und die Arbeitszeiten der Kinder zu begrenzen. Die Kontrolle über die Einhaltung ist schwierig. In der Schweiz gibt es keine Gesetze, die Sharenting oder die Tätigkeit von Kinderinfluencer:innen direkt regeln.
Aber: «Laut Zivilgesetzbuch und Datenschutzgesetz haben Kinder ein Recht auf den Schutz ihrer Persönlichkeit und ihrer Privatsphäre», sagt Husi. Das Veröffentlichen von Bildern oder Videos ohne Einwilligung der Kinder oder, bei jüngeren Kindern, ohne sorgfältige Interessenabwägung durch die Eltern kann problematisch sein. Aktuell fordert zudem eine Motion, den Kinderschutz im Internet zu verstärken. «Die allgemeinen Regeln zum Schutz der Persönlichkeit reichen nicht mehr aus», sagt der Grünen-Nationalrat Raphaël Mahaim, der den Vorstoss vertritt. Die Regelungen sind Gegenstand der aktuellen Debatte.
Simone Mayer

Account: Schwizer.Mami
Alter: 40
Wohnort: Kanton Schwyz
Kinder: eine Tochter, knapp 5 Jahre alt und ein Sohn, 11 Monate alt
Beruf: Pflegefachfrau in der Kinder und Jugendpsychiatrie
Plattform: TikTok
Follower und Likes: 8'000 Follower und bis zu knapp 60'000 Likes
Wie sieht der Alltag einer berufstätigen zweifachen Mutter aus? Das will Simone Mayer mit ihrem Account Schwizer.Mami zeigen. Dabei verfolgt sie in gewissen Punkten eine strikte Haltung.
«Vieles, was mich bewegt, wird zu Content. Angefangen habe ich mit Aufräum- und Putzvideos, später kamen der Wocheneinkauf und die Menüplanung dazu. So hat sich mein Kanal weiterentwickelt. Zusammenfassend kann man sagen: Mein Content ist der Alltag eines Zweifachmamis. Dabei ist mir sehr wichtig: Ich zeige meine Kinder nicht – weder von hinten noch unkenntlich gemacht oder einzelne Körperstellen wie Hände oder Füsse. Ich weiss, viele machen das anders und dafür verurteile ich niemanden. Diese Entscheidung muss jede Familie für sich treffen. Ich möchte aber zeigen, dass man auch ehrlichen Mami- oder Elterncontent machen kann, ohne die Kinder zu zeigen.
Erzähle ich aus unserem Alltag, tue ich das aus meiner Perspektive. Es geht darum, wie ich mich dabei fühle, und nicht darum, was die Kinder gemacht haben. Ich will ihre Privatsphäre nicht nur in Bezug auf ihr Bild wahren, sondern auch in Bezug auf ihre Persönlichkeit. Meine Kinder haben nicht entschieden, Social Media zu machen, das war ich. Meinen Kindern soll es später nicht unangenehm sein, dass ich intime oder peinliche Dinge über sie erzählt habe. Sie sollen selbst entscheiden können, was sie auf Social Media von sich zeigen wollen. Ich möchte, dass sie eine weisse Leinwand haben, auf der sie mit jenen Farben malen können, mit denen sie wollen, und nicht mit denen, die ich ihnen vorgegeben habe.
Mein Beruf trägt sicher dazu bei, dass ich so strikt bin. Ich arbeite in der Psychiatrie. Ich weiss, wie Menschen mit bestimmten Neigungen ticken, und ich weiss auch, wie schnell es gehen kann, dass Bilder von Kindern missbraucht werden. Dazu braucht es keine Nacktaufnahmen. Auch Kinder in alltäglichen Situationen sind für manche Menschen ein Trigger. Der zweite Grund liegt in meiner Erfahrung. Ich bin seit über zehn Jahren im Social-Media-Business. Mit Anfang 30 finanzierte ich mir als Youtuberin mein Studentinnenleben. Damals war das lukrativ. Ich hatte attraktive Werbedeals und bekam dank Kooperationen gratis Kleider oder Schuhe. In dieser Zeit lernte ich: Erzähle ich auf einem solchen Kanal oder in einem Interview etwas, ist es draussen. Darum wäge ich heute sehr genau ab, was ich sage, wie ich es sage und was ich zeige. Will ich nicht über ein Thema reden, schneide ich es nicht mal an. Ich möchte gar keinen Spielraum für Diskussionen oder unnötige Interpretationen bieten. Mein Account soll positiv sein und ein Safe Space für andere Mamis – auch ohne die Gesichter meiner Kinder.
Derzeit gehe ich nur selten Kooperationen ein. Ich wähle bewusst aus, was ich mache und was nicht. Ich möchte authentisch bleiben. Es gab schon zwei Anfragen, bei denen ich mit meiner Tochter und bestimmten Produkten kochen sollte. Ich schlug vor, die Videos ohne meine Tochter zu machen. Das wollte das Unternehmen nicht, also lehnte ich ab. So wichtig sind mir das bisschen Geld oder die Gratisprodukte nicht. Ich habe einen Hauptjob und bin weder auf Geld von Social-Media-Deals noch auf Views oder Likes angewiesen. Auf TikTok habe ich keine Verpflichtungen. Ist mir nicht danach, poste ich nicht. Ich mache meinen Content aus Spass und so soll es bleiben.»
Für Datenschutzexpertin Sandra Husi ist die heutige Gesetzeslage in der Schweiz eigentlich klar genug. «Das Problem ist: Das Bewusstsein der Eltern fehlt und die Kinder können sich nicht wehren.» Ginge es nach Husi, würden die Plattformbetreiber stärker in die Pflicht genommen: «Die Plattformen könnten problemlos Kinderbilder erkennen und ihre Veröffentlichung verhindern. Sie tun dies beispielsweise bei Nacktbildern.» Allerdings haben die Plattformbetreiber laut der Datenschutzexpertin wenig Interesse, dies zu tun: «Der Content ist wirtschaftlich für die Plattformen attraktiv. Darum bräuchte es Gesetze, die sie dazu verpflichten.»