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Erziehung
GPS-Ortung aktiviert
Ein Airtag im Thek oder eine GPS-Uhr am Handgelenk: Das Tracking ihrer Kinder ist für viele Eltern längst Alltag, aber auch eine Gratwanderung zwischen Fürsorge und Kontrolle.
Unser Sechsjähriger hat einen Airtag und wird nach den Sommerferien eine Smartwatch tragen», sagt Stefanie. In ihrer Gemeinde gibt es keinen Schulbus, weshalb ihr Sohn auf den ÖV angewiesen ist. «Er weiss, dass die Uhr nur für den Notfall da ist – zum Beispiel, wenn er in den falschen Bus einsteigt», erklärt sie. Mit der Schule sei die Situation abgesprochen. So wie Stefanie und ihrer Familie geht es vielen. Immer mehr Eltern statten ihre Kinder mit Trackern oder GPS-fähigen Smartwatches aus – sei es aus Sorge, aus Vorsicht oder, um sich im Notfall schnell ein Bild der Lage machen zu können. Das zeigen auch die Verkaufszahlen. Beim grössten Schweizer Onlinehändler Digitec Galaxus haben die Verkäufe von Kinder-Smartwatches stark zugenommen. «2024 erzielten wir 89 Prozent mehr Umsatz als noch 2020», teilt das Unternehmen auf Anfrage mit. Auch die Absätze von GPS-Trackern wie Airtags haben stark zugenommen. Der Umsatz in diesem Segment hat sich in den vergangenen vier Jahren laut Unternehmensangaben mehr als vervierfacht. Allerdings lässt sich bei diesem Segment nicht feststellen, ob die Tracker fürs Wiederfinden von Kindern oder von Schlüsselbunden eingesetzt wird.
Fürsorge? Kontrolle?
Was Eltern beruhigt, wirft zugleich Fragen auf: Wo endet Fürsorge, wo beginnt Kontrolle? Und wie wirkt sich permanente Überwachung auf das Vertrauen, die Selbstständigkeit des Kindes und den Datenschutz aus? «wir eltern» hat dazu mit drei Fachpersonen gesprochen: Entwicklungspsychologe Moritz Daum von der Universität Zürich, Dagmar Rösler, Präsidentin des Lehrerinnenund Lehrerverbands LCH, und Dominika Blonski, Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich.
Eltern bewegen sich oft im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Loslassen. «Klare Absprachen helfen, ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln», sagt Moritz Daum. Wichtig sei, dass Kinder altersgerecht Autonomie erfahren, um Selbstständigkeit und Selbstvertrauen zu entwickeln. Das Tracking von Kindern sei bis etwa sechs Jahren meist unproblematisch. «In diesem Alter überwiegt das Schutzbedürfnis – und Kinder bewerten die Überwachung in der Regel positiv oder gar nicht», erläutert Daum. Spätestens ab der Primarschule müsse das Tracking aber transparent und gemeinsam mit dem Kind besprochen werden: «Nur so lässt sich gegenseitiges Vertrauen erhalten.»
Denn selbst wenn das Kind informiert ist, kann Überwachung langfristig Misstrauen signalisieren – und das Verhältnis zu den Eltern belasten. Statt «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser» plädiert Daum für die Umkehr. Kinder, die ihre Beziehung zu den Eltern als vertrauensvoll erleben, würden eher eigenständige Entscheidungen treffen, Risiken realistischer einschätzen und ein gesundes Selbstvertrauen entwickeln, sagt Daum. Er nennt jedoch auch positive Einflüsse: Wenn sich das Kind in einer ungewohnten Umgebung oder unbekannten Gegend aufhält, kann eine Smartwatch beruhigend wirken.
Rechte der Kinder
Wichtig sei in jedem Fall, dass «Tracking massvoll eingesetzt, die Privatsphäre der Kinder respektiert und ein Dialog über Vertrauen und Selbstständigkeit geführt wird». Zu viel Überwachung könne langfristig die Autonomie und das Vertrauen von Kindern beeinträchtigen, sagt Moritz Daum von der Universität Zürich. «Offene Gespräche über Ängste, Erwartungen und Grenzen helfen, gemeinsame Lösungen zu finden.» Daum gesteht Kindern dabei das Recht zu, das Tracking abzulehnen. Eltern sollten auf diesen Wunsch respektvoll reagieren.
Dagmar Rösler, Präsidentin Schweizer Lehrerverband

Smartwatches im Klassenzimmer
Die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, stimmt Moritz Daum zu: «Kinder haben das Recht darauf, nicht immer und überall überwacht zu werden.» Für ihre Entwicklung sei es sehr wichtig, dass Kinder auch Herausforderungen ohne ihre Eltern meistern können. Rösler versteht jedoch das Bedürfnis der Eltern, den Standort ihrer Kinder zu kennen. Im Schulalltag hingegen sieht sie den zunehmenden Einsatz von Smartwatches kritisch. «Sie können ablenken und zum Schummeln während Prüfungen verleiten», sagt Rösler. Problematisch sei auch, wenn Kinder bei Stress, etwa vor Vorträgen oder nach verlorenen Spielen im Sport, sofort die Eltern kontaktierten. Es sei förderlich für die Resilienz, «wenn nicht jede Schwierigkeit dem Kind im Voraus weggenommen, sondern im Schulalltag gemeistert wird».
Rösler erinnert sich an einen Vorfall auf dem Pausenplatz: Zwei Jungen gerieten in einen Streit, und einer der beiden drückte während des Konflikts den Alarmknopf seiner Smartwatch. Zwei Minuten später war der Vater vor Ort und massregelte den anderen Jungen. Trotz solcher Zwischenfälle hält der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer ein generelles Verbot von Smartwatches nicht für sinnvoll. Stattdessen plädiert man für individuelle, stufengerechte Regelungen, die von Lehrpersonen und Schulleitungen gemeinsam entwickelt werden. «Es ist nicht nötig, Kinder während der Schulzeit zu überwachen», sagt Rösler. «Die Schule ist ein sicherer Ort.» Sie wünsche sich, dass Eltern «Vertrauen in die Schule als Lernort, in die Lehrpersonen und in die eigenen Kinder haben, damit sie auch schwierigere Situationen aus eigener Kraft meistern».
Persönlichkeitsverletzung droht
Aus datenschutzrechtlicher Sicht ist das Tracking von Kindern heikel. Eltern dürften ihre Kinder nicht ohne deren Wissen und Zustimmung überwachen, sagt Dominika Blonski, Datenschützerin des Kantons Zürich. Sobald Kinder urteilsfähig sind, müssten Eltern also ihre Einwilligung einholen. Das Gesetz nennt kein konkretes Alter, erklärt Blonski. Aber ab einem Alter von etwa 6 bis 7 Jahren sollten Kinder in Entscheidungen um den digitalisierten Alltag einbezogen werden. Wie Moritz Daum sagt Dominika Blonski: «Lehnt das Kind das Tracking ab, ist dies zu respektieren – ausser eine Kindeswohlgefährdung spricht klar dagegen.» Ohne Einwilligung kann die Ortung eine Persönlichkeitsverletzung darstellen. Zudem verstösst sie unter Umständen gegen das Schweizer Datenschutzgesetz – etwa wenn sie nicht verhältnismässig ist. Doch nicht nur rechtlich, auch technisch birgt das Tracking Risiken. Viele Geräte übertragen Standortdaten, Sprachnachrichten oder Fotos unverschlüsselt oder speichern sie auf Servern im Ausland. «Das erhöht die Gefahr von Datenlecks und unbefugtem Zugriff», warnt Blonski. Einige Geräte seien sogar relativ einfach zu hacken, weil die Verbindung zum Eltern-Smartphone oft ungesichert sei.
Eltern sollten sich bewusst sein, dass ihre Entscheidungen im digitalen Raum langfristige Auswirkungen auf die Persönlichkeitsrechte ihrer Kinder haben können. Blonskis Fazit: Ein genereller Verzicht auf Tracking sei aus Datenschutzsicht der risikoärmste Weg. Wichtiger als Kontrolle seien «Vertrauensaufbau, altersgerechte Kommunikation und die Vermittlung digitaler Kompetenzen».
Vertrauen statt Vollzugriff
Tracker können im Einzelfall beruhigen, aber sie ersetzen kein Vertrauen. Wer Kinder ständig überwacht, nimmt ihnen nicht nur ein Stück Freiheit, sondern schwächt auch ihre Fähigkeit, selbstständig zu handeln, Probleme zu lösen und sich in der Welt zurechtzufinden. Ob aus Sicherheitsbedürfnis, Bequemlichkeit oder digitaler Neugier: Die Gratwanderung zwischen Fürsorge und Kontrolle ist real.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob es technisch möglich ist, sondern, ob man es wirklich sollte, und wie man Kinder begleitet, statt sie aus der Ferne zu lenken. Das wiederum müssen alle Eltern für sich entscheiden und ihren Entschluss mit ihren Kindern besprechen.