Aus dem Vaterland
«Rite, rite Rössli»

istockphoto
Ich hatte wohl jahrelang nicht mehr freiwillig gesungen. Dann kam unsere Tochter zur Welt und es stellte sich ein wie ein Reflex: Ich sang, um sie zu beruhigen, ich sang sie in den Schlaf und manchmal auch, um sie zu übertönen. Je mehr ich sang, desto mehr zweifelte ich an meiner Musikalität, desto schneller gingen mir die Melodien aus und desto mehr dachte ich über Kinderlieder nach. Entdeckt habe ich dabei Schauriges: Viele Kinderlieder tönen verdächtig ähnlich. Das ist einerseits verständlich, wir wollen unseren Kindern ja möglichst einfache Melodien zumuten, klar, dass wir da nicht Freejazz trällern oder 12-Ton-Musik summen. Andererseits ist diese Monokultur aus Stereotypen doch ziemlich blamabel. Ein Beispiel gefällig? «Rite, rite Rössli» klingt genau gleich wie «Hoppe, hoppe Reiter» (und «Heile, heile Säge» eigentlich auch). Die Melodie von «O du goldigs Sünneli» ist eine Kopie von «Alle Vögel sind schon da». «Chrücht es Schnäggli» singt sich genau gleich wie «Frère Jacques», und «I ghöre es Glöggli» ist nichts anderes als «Ihr Kinderlein kommet» mit anderem Text.
Man behafte mich jetzt nicht auf Tonart und andere Details, aber mir scheint, da haben sich die Schweizer Kinderlieder-Komponisten herzlich wenig einfallen lassen. Und das hat mich im ersten Moment etwas schockiert. Ich fühlte mich wie damals als Kind, als ich bemerkte, dass Terence Hill auch Sylvester Stallone ist. Die beiden Schauspieler haben nämlich dieselbe deutsche Synchronstimme. Als ich mir dessen bewusst wurde, fühlte ich mich auf seltsame Weise hintergangen und manipuliert. So auch jetzt, ich hielt die Kinderlieder für eigenständige Stücke, nun entpuppen sie sich als Imitate.
Vielleicht sind wir Schweizer musikalisch zu beschränkt, um etwas Eigenes hinzukriegen. Ich meine, unser musikalischer Exportschlager ist DJ Bobo. Dazu muss man gar nicht mehr sagen. Und wie es momentan aussieht, ist DJ Antoine der Einzige, der in Bobos Fussstapfen treten könnte. Bei dem Gedanken möchte ich auswandern. Sowieso, die musikalische Faulheit scheint in der Schweiz Tradition zu haben: Bis 1961 hatten wir eine schäbige Kopie als Nationalhymne. «Rufst du mein Vaterland» wurde zur Melodie von «God save the Queen» komponiert respektive getextet. Man stelle sich das vor: Eine Nationalhymne, die aus patriotischen Gründen gesungen wird und die Einzigartigkeit des Heimatlands preist, ist zu einem gewichtigen Teil (namentlich der Melodie) identisch mit der Nationalhymne eines anderen Landes. Abstruser geht es fast nicht.
Weil ich mehr wissen wollte zu den Imitaten unter den Schweizer Kinderliedern, erhoffte ich mir Hilfe von der App Soundhound. Diese soll die Melodie, die man ihr vorsingt, erkennen – und so mögliche Plagiate entlarven.
Ich singe «D’Zyt isch do» in mein Handy, Soundhound bietet mir drei Möglichkeiten: «Fuck You» von Cee Lo Green, «Mad World» von Tears for Fears oder «The One That Got Away» von Katy Perry. Aha. Ich singe «S’isch mer alles eis Ding», Soundhound hält es für «Wake Up Call» von Maroon 5. «Det äne am Bergli»? «Scream and Shout» von will.i.am. «Es wott es Fraueli z’Märit goh» spare ich mir dann. Mein Fazit: Entweder hatten Schweizer Kinderlieder schon immer Hitpotenzial und die US-Stars haben sich daran orientiert. Oder es steht schlecht um meine Gesangskünste. Auch möglich: Soundhound ist ganz einfach ein Sauhund.
Wer kennt weitere Abklatsch-Songs? Oder wirklich gute, originäre Schweizer Kinderlieder? Hinweise bitte an reto.hunziker@gmx.ch. Sonst gröle ich aus Frust bald «Oh Chihuahua».