
Sonja Mehringer
Monatsgespräch
«Spass, Lernen und Bildung»
Wissenschaftliche Arbeiten zu Spielzeug sind selten. Spielzeugforscher Volker Mehringer wirbt daher nur zu gern für sein Fachgebiet. Denn: Spiel ist der zentrale Entwicklungsmotor. Und dabei ist es so ziemlich egal, womit gespielt wird.
Viele Kinderzimmer platzen vor lauter Spielzeug fast aus den Nähten. Nur die Spielzeugforschung, die ist im Gegensatz dazu recht karg. Warum führt Ihr Forschungsgebiet so ein Schattendasein?
Tja, Spielen, Spielsachen, lustiger Zeitvertreib für Kinder – das klingt offenbar nicht beeindruckend genug und wird daher oft bagatellisiert. Fälschlicherweise! Denn dabei wird die Bedeutung des Spielens für Lernen und Entwicklung übersehen. Ich muss dauernd Überzeugungsarbeit für mein Thema leisten.
Geben Sie mal eine Kostprobe Ihrer Überzeugungsarbeit
(lacht) Die Bedeutsamkeit des Spiels für die kindliche Entwicklung lässt sich schon daran erkennen, wie viel Zeit Kinder damit verbringen. Spiel begleitet alle elementaren Entwicklungsschritte und ist sogar der zentrale Entwicklungsmotor. Und nur im Spiel gibt es diese wundervolle Kombination von Spass, Lernen und Bildung. Apropos Bildung: Im Spiel zeigen und trainieren Kinder mühelos Anstrengung, Konzentration, Ausdauer – alles Fähigkeiten, bei denen wir Pädagog:innen stets grübeln, wie man sie am besten fördern kann.
Fähigkeiten, die etwa auch in der Schule gebraucht werden. Womit wir beim spielerischen Lernen und beim pädagogisch wertvollen Spielzeug wären.
Ich bin ein grosser Freund von spielerischem Lernen. Aber: Ich bin kein Freund davon, Spielen pädagogisch zu vereinnahmen oder Spielsachen von A bis Z durchzupädagogisieren. Das Wichtigste ist doch, dass Kinder überhaupt ins Spielen kommen, ein Spiel voller Emotionen entsteht, sie den «Flow» erleben, Zeit und Raum vergessen und sich völlig ins Spiel hineinversetzen.
Man kann es vielleicht mit dem Hineinversetzen auch übertreiben: Ich bin als Kind ganztägig mit einer Badekappe mit einem langen blonden Zopf dran herumgelaufen, um auszusehen wie die «bezaubernde Jeannie». Zum Einkaufen, zum Verwandtenbesuch – überallhin.
Das haben Ihre Eltern aber sehr, sehr gut gemacht, dass sie Sie das haben machen lassen! Erwachsene sollten den Kindern beim Spielen Freiraum geben und nicht zu früh eingreifen. Selbst dann nicht, wenn sie doof finden, was das Kind da gerade macht. Kinder haben einen Riecher für das für sie exakt zu diesem Zeitpunkt richtige Spiel und Spielzeug. Einen besseren Riecher als Erwachsene.
Als meine Tochter klein war, hatte ich die klare Vorstellung, Holzspielzeug sei das Nonplusultra. Leider war aber schon ihre Holz-Baby-Rassel schwer wie eine gefrorene Rinderkeule und ist ihr deshalb ständig auf den Kopf gefallen...
(lacht) Jaja, kennen wir alle, solche hehren Elternvorstellungen. Aber es ist so: Es gibt kein Kind, das von sich aus sagt: Bitte, bitte gebt mir Holzspielzeug und nur Holzspielzeug! Gibts einfach nicht. Aber natürlich gibt es trotzdem gutes und schlechtes Spielzeug.
Und das wäre?
Gutes Spielzeug ist Spielzeug, mit dem oft gespielt wird. Ganz einfach. Wir haben eine Studie mit Kindern gemacht und sie gefragt, was sie an einem bestimmten Spielzeug gut finden, beziehungsweise welches Spielzeug sie gerne besitzen würden. Ein kleiner Junge wollte unbedingt ein Spiel-Krankenhaus haben. Warum? Weil im Krankenhaus ein Fahrstuhl wäre, den er rauf und runter fahren lassen könnte. Ich sehe es förmlich vor mir, wie der Kleine Spielfiguren begeistert rauf und runter fahren lässt und dabei den Mechanismus des Fahrstuhls beobachtet. Dieses Krankenhaus wäre also für ihn – sogar aus Plastik – ein gutes Spielzeug.
Hm. Auf den Fahrstuhl muss man erst mal kommen. Wenns schlecht gelaufen wäre, hätte man ihm ein Spital ohne Fahrstuhl geschenkt.
Tja. Deshalb ist es hilfreich, nah am eigenen Kind zu sein. Nachzufragen, miteinander im Gespräch zu bleiben. Zu beobachten, was es interessiert. Die Persönlichkeit eines Kindes spiegelt sich nämlich schon früh in seinem Spiel und in seinen Spielsachen. Hilfreich ist es auch, in die eigene Kindheit zurückzuschauen und sich zu fragen: Was hat mich selbst eigentlich damals fasziniert? Bei diesen Spielsachen springt der Funke wahrscheinlich auch aufs Kind über. Also – manchmal springt der Funke.
Was heisst das – manchmal? Haben Sie da andere Erfahrungen?
Na ja, ich war immer ein grosser Fan von diesen Kapla-Steinen. Da kann man wirklich ohne Grenzen mit bauen. Deshalb haben wir Kapla auch für unsere Tochter und unseren Sohn gekauft. Leider standen diese – nebenbei: recht teuren! – Steine bei unseren Kindern nur herum und niemand zeigte auch nur einen Hauch von Interesse daran. Das hat mich ziemlich gewurmt, schliesslich hatte ich richtig investiert in die Dinger.
Und dann?
Dann habe ich gedacht: Pfffft, wenn die nicht wollen, dann spiele ich einfach selbst damit ! Keine fünf Minuten und meine beiden wollten mitspielen. Weitere fünf Minuten und sie haben sich schon gestritten, wer die meisten Steine bekommt.
Das mit dem Funken ist tatsächlich so eine Sache. Ich war als Mädchen begeisterte Barbie-Spielerin. Wenn ich allerdings mit meiner Tochter Barbie gespielt habe, hat sie sich nur hingesetzt und einfach meinen fünfaktigen Dramen zugeschaut. Apropos Barbie: Darf ich mich überhaupt als früherer Barbie-Fan outen? Barbies sind ja arg verpöntes Spielzeug.
Was Quatsch ist. Ihr Beispiel zeigt doch: Man kann auch mit Barbies toll spielen und sich fünfaktige Dramen ausdenken. Richtig, es gibt an der Puppe Fragwürdiges. Etwa, was für ein Schönheitsideal sie transportiert und wie das in emanzipatorischer Hinsicht zu bewerten ist.
Und wie ist es zu bewerten?
Entspannt. Nur weil ein Mädchen mit Barbies spielt, wird es später nicht aussehen wollen wie eine Barbie, und ein Junge wird deshalb nicht zwingend auf Frauen stehen, die dieses Ideal verkörpern. Das ist doch viel zu simpel gedacht. Ausserdem hat Barbie eine höchst emanzipierte Geschichte. Ihre Erfinderin Ruth Handler war schon in den 50er-, 60erJahren eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie hat diese neue berufstätige Puppe den Babypuppen entgegengesetzt, mit denen damals Mädchen auf die Mutterrolle vorbereitet werden sollten. Ausserdem gibt es inzwischen ja auch Diversity-Barbies mit sehr unterschiedlichem Aussehen. Ob das ein Marketing-Gimmick ist oder nicht, sei dahingestellt.
Da wir gerade bei den Geschlechtsrollen sind: Spielen Jungen mit anderen Spielsachen oder anders mit Spielsachen als Mädchen? Der Sohn einer Freundin hat stets einen Bagger in seinem SpielSnuggli herumgetragen.
Super ! Daran sieht man doch, dass das, was Spielzeugdesigner sich bei Spielsachen denken, und das, was Kinder tatsächlich damit machen, zwei Paar Schuhe sind. Ja, Jungen spielen ein bisschen anders als Mädchen und mit anderem. Doch vor allen Dingen ist die Schnittmenge zwischen Jungen und Mädchen viel grösser als die Unterschiede im Spiel. Meist ist dieser rigide Unterschied ohnehin nur eine Phase in der Entwicklung. Vor allem im Kindergartenalter spielen Kinder sehr geschlechtsrollenstereotyp.
Vielleicht wollen sie sich ihres neuen Wissens über Geschlechtsrollen vergewissern?
Absolut. Das wächst sich aber wieder raus. Es ist nicht so, dass Kinder, die im Kindergarten besonders geschlechtsrollenkonform spielen, als Erwachsene Rollenklischees bedienen. Für Jungen ist das mit den Rollen manchmal ein Problem.
Was ist für Jungen ein Problem?
Spielt ein Mädchen mit dem Legoset, baut etwas oder nimmt die Autos, dann finden die Erwachsenen: «Wow, super, dass du das machst. Weiter so !» Wünscht sich dagegen ein Junge ein pinkes Barbie-Schloss oder einen Puppenwagen, haben die Eltern Grummeln in der Magengrube. Das ist schade. Denn durch jedes Spielzeug lernt man Spezifisches, jedes trainiert bestimmte Kompetenzen.
Was liesse sich denn durch Puppenspiel lernen?
Kommunikationsfähigkeit, Fürsorglichkeit, Kooperationsbereitschaft, Fantasie, Empathie – all das. Und das können beide Geschlechter gut gebrauchen. Anders als Kinder laden Erwachsene Spielsachen mit Nebenbedeutungen auf. Nehmen Sie das Lernspielzeug.
Ja? Was ist mit dem Lernspielzeug?
Das riechen die Jungs und Mädchen zehn Meilen gegen den Wind, dass sie mit diesem «Spielzeug» jetzt etwas lernen sollen. Da denken die doch sofort: «Ha, so kriegst du mich nicht !» und lassen einen kühl ins Leere laufen. Und recht haben sie ! Spielen soll Spass machen. Erwachsene sollten mit der Wahl des Spielzeugs lediglich Inputs geben und sich ansonsten raushalten.
Wie etwa beim Konzept des spielzeugfreien Kindergartens?
Ja. Eine Weile die Spielsachen aus dem Kindergarten zu entfernen, war ursprünglich eine Idee aus der Suchtprophylaxe. Es geht dabei darum, nicht immer mehr und mehr zu brauchen, sondern mit eigener Initiative und Fantasie etwas Eigenes zu erschaffen. Im Kindergarten also etwa nur mit Decken, Kisten, Stühlen Höhlen zu bauen, Pferd zu spielen. Das ist gute Konsumerziehung. Und zeigt nebenbei: Kinder benötigen eigentlich gar kein extra Spielzeug. Sie spielen immer. In jeder Situation: in Kriegen, auf der Flucht, es gibt sogar Untersuchungen zu Kinderspielen in Konzentrationslagern. Aber das führt jetzt in andere Bereiche. Was ich sagen will: Spiel braucht nicht viele Spielsachen.
Aber schaden tuts auch nicht, wenn die Geschenkeflut zu Geburtstag oder Weihnachten einsetzt?
Ach was. Aber sie brauchen trotzdem nicht fünf verschiedene Varianten vom Gleichen. Stattdessen benötigen Kinder in jeder Entwicklungsphase etwas anderes: verschiedene Materialien fürs Explorationsspiel, Verkleidekisten fürs Rollenspiel, Brettspiele fürs Regelspiel, und so weiter.
Und die Computerspiele?
Die wissenschaftliche Datenlage ist widersprüchlich. Doch ich glaube, man kann sagen: Auch Computerspiele sind einfach Spiele. Vorausgesetzt, Altersempfehlungen und Spieldauer werden beachtet. Selbst ein Ballerspiel macht nicht zwangsläufig aggressiv. Da spielen die Situation, die Häufigkeit, der Lebenskontext und noch vieles, vieles mehr eine Rolle.
Was war denn Ihr absolutes Lieblingsspiel als Kind?
Masters of the Universe.
Ähem. Sind das nicht diese muskelbepackten und mit Schwertern bewaffneten Action-Figürchen aus Plastik?
Exakt die. War ein harter Kampf mit meinen Eltern. Diese martialischen Figuren waren nun wirklich nicht das, was ihnen so als ideales Spielzeug vorschwebte (lacht). Jedenfalls war es eine Sternstunde meiner Kindheit, als ich trotzdem die erste Figur geschenkt bekam. Ein paar von denen stehen übrigens noch immer auf meinem Schreibtisch. Und nein, die Masters-of-the-Universe-Figuren haben mein ästhetisches Empfinden und Körpergefühl nicht nachhaltig geprägt. Wer mich ansieht, merkt gleich, dass es mit dem Muskelbepackten nicht weit her ist.
Und was ist heute Ihr Lieblingsspiel mit der Familie? Geben Sie uns einen Tipp.
«Flügelschlag». Bei diesem Spiel erfährt man eine Menge über Vögel, es ist Wettbewerb dabei, aber nicht zu viel und – es ist ästhetisch einfach wunderschön.
Und das unangefochten dämlichste Spiel?
Das war mal ein Auftrag für meine Studenten und Studentinnen: «Sucht mir das ultimativ blödeste Spiel.» Und eine Studentin von mir hat wirklich das wahrscheinlich grässlichste gefunden. Ich glaub, es ist ein asiatisches und heisst «Russisch Roulette». Die Spieler halten sich eine Plastikpistole an den Kopf und bei wem es beim Abrücken «Peng!» macht, der hat verloren.
Kommentar überflüssig.
Kommentar überflüssig.
Volker Mehringer, 46, ist Pädagoge für Kindheit und Jugend an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Spielzeug und Spiel. Er ist Vater einer Tochter, 12, und eines Sohnes, 9.